Kirill Serebrennikow

Leto

Leidenschaftliche Musiker: Mike (Roma Zver) und Viktor (Teo Yoo) im Leningrader Rockclub. © Margaritta Ivanova. Fotoquelle: Weltkino Filmverleih
(Kinostart: 8.11.) New Wave gegen das Politbüro: Mit doppelbödigen Rocksongs wurde Viktor Zoi zum Megastar in der Sowjetunion. Das dortige Klima um 1980 rekonstruiert Regisseur Kirill Serebrennikow brillant – selten wird Jugendkultur so authentisch verfilmt.

Summertime / when the livin‘ is easy…“, hieß es 1935 in der Jazzoper „Porgy and Bess“. Auf Russisch klingt das knapp 50 Jahre später so: „Sommer! / Ich werd‘ gebraten wie ein Schnitzel. / Hab zwar viel Zeit, aber kein Geld, / doch das ist mir total egal…“. Das Lied komponiert hat Michail „Maik“ Naumenko, Bandleader von „Zoopark“; sie sollte im Lauf der 1980er Jahre zu einer wichtigen Bluesrock-Gruppe in der Sowjetunion werden.

 

Info

 

Leto

 

Regie: Kirill Serebrennikow,

128 Min., Rußland/ Frankreich 2018;

mit: Roma Zver, Irina Starshenbaum, Teo Yoo

 

Weitere Informationen

 

Maik (Roma Zver) klampft den Song „Leto“, während er mit einer Schar von Freunden am Ostseestrand herumlungert. Sie qualmen billige Papirossy-Zigaretten, deren Filter man selbst knicken muss, lassen Bier- und Rotweinflaschen kreisen. Jungs klopfen den Takt auf Topfgeschirr, Mädels hüpfen wie Waldfeen umher und trällern einen easy listening-Chorus. Ein unschuldiges Vergnügen, und eine einzige Provokation der Staatsmacht: Solch sorglose Ausgelassenheit ist in der Diktatur des Proletariats nicht vorgesehen.

 

Knirschendes KPdSU-Korsett

 

Um 1980 hält das Korsett des Kommunismus noch, aber es knirscht schon gewaltig. Im halbwegs liberalen Leningrad sammeln sich Jugendliche aus allen Landesteilen, die Rockmusik machen und hören wollen. Ihre Sehnsucht nach Freiheit ist diffus und eigentlich unpolitisch – aber in dieser geschlossenen, erstarrten Gesellschaft gilt jede Abweichung von der spießigen Norm als systemkritisch.

Offizieller Filmtrailer


 

Rockkonzert wie im Theater

 

Kein Wunder bei solchen Bedingungen: Elektro-Gitarren und Schallplatten westlicher Rockstars sind nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Eine Plattensammlung legt man an, indem man sie auf Tonbänder überspielt. Vor Konzerten zensieren Politkommissare, was gesungen werden darf. Der einzige zugelassene Rockclub gleicht einem Theater: Die Zuhörer müssen sitzen bleiben und dürfen nur brav klatschen. Wer Banner hochhält oder sonstwie aus der Stuhlreihe tanzt, den zerren Saalordner sofort raus.

 

Dieses Klima aus absurder Repression und kleinen Fluchten hat der Theater- und Filmregisseur Kirill Serebrennikow, einer der klügsten Kultur-Köpfe Russlands, formvollendet rekonstruiert. Mit einer aus westlicher Sicht belanglosen Handlung: Der junge Berufsschüler Viktor Zoi (Teo Yoo) und sein Kumpel Leonid (Filipp Awdejew) spielen Maik am Strand ihre eigenen Songs vor. Der ist angetan und führt sie in die lokale Rockszene ein. Später sorgt er dafür, dass sie als Trio „Kino“ öffentlich auftreten und Studioaufnahmen machen können – trotz Viktors Flirt mit Maiks Frau Natascha (Irina Starshenbaum).

 

Unfalltod auf Erfolgs-Gipfel

 

Für damals gleichaltrige Russen sind das mythische Momente: In der Perestroika-Zeit ab 1985 wurde Viktor Zoi zum glühend verehrten Rock-Poeten. Die Musik von „Kino“ war eher konventioneller Mainstream-Rock, aber Zois Texte sprachen Millionen aus dem Herzen. Schlicht und alltäglich, aber mit originellen Wortspielen; oft nur melancholische Gefühle schildernd, zuweilen deutlich Veränderungen fordernd. Stagnation und Utopie, Ironie und Sarkasmus: Zoi führte Stilmittel von Punk und New Wave in die sowjetische Popkultur ein.

 

Auf der Bühne trug er sie mit gerecktem Kinn in angedeuteter Propheten-Pose vor. Das passte zum exotischen Antlitz des Halbkoreaners – Koreaner bilden eine große Minderheit in Russlands Fernem Osten. 1990 spielte „Kino“ vor 62.000 Fans im ausverkauften Moskauer Olympiastadion. Kurz darauf starb Zoi bei einem Autounfall; das schockierte die sowjetische Jugend so sehr wie der Tod von Jim Morrison und John Lennon ihre Altersgenossen im Westen. In vielen Städten wurden improvisierte Denkmäler für Zoi errichtet.

 

Auftritte in Intelligenzija-Wohnzimmern

 

Das muss man alles nicht wissen, um von diesem period piece gefesselt zu sein: Selten wurde die spezifische Atmosphäre einer Underground-Jugendkultur so authentisch eingefangen wie in „Leto“. Die schäbige Grandezza des damaligen Leningrad lässt sich am ehesten mit Berlin zur selben Zeit vergleichen; hinter klassizistischen Fassaden riecht es förmlich nach Kohlsuppe und Kohleöfen. Die Nachwuchs-Rocker wohnen bei ihren Eltern oder in kommunalky, sowjetischen Etagen-WGs mit gemeinsamer Küche und Bad. Ihr erstes Publikum finden sie bei halblegalen Wohnzimmer-Konzerten der Intelligenzija.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der die Zeichen liest - Uchenik" - groteskes Drama über radikalen Christen von Kirill Serebrennikow

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Geniale Dilletanten: Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland" - selektiver Überblick über die Szene in Ost + West in München, Hamburg + Dresden

 

und hier eine Besprechung des Films "Gundermann" - Biopic über den kontroversen DDR-Liedermacher von Andreas Dresen

 

und hier einen Beitrag über den Film "Wyssotzki - Danke, für mein Leben" - Biopic von Pjotr Buslov über den berühmtesten Liedermacher der Sowjetunion.

 

Mitten durch diese schwarzweiße Tristesse funkt dadaistischer Witz. In den beiden schönsten Szenen lässt der Regisseur plötzlich Zug- und Tram-Fahrgäste die New-Wave-Klassiker „Psychokiller“ von den Talking Heads und „The Passenger“ von Iggy Pop singen, während Comic-Gekritzel übers Bild spukt – als wär’s ein MTV-Videoclip.

 

Letzte Rock-Sternstunde

 

Am Ende hält der punkige Szene-Chefdenker eine Papptafel mit den Worten hoch: „Etogo ne bylo“ („Das ist nie passiert“). Es war nur ein Traum. Aber diese Träumer werden ab 1985 im zerfallenden Riesenreich die Hoffnungen und Wünsche der Massen als Slogans formulieren – die wohl letzte Sternstunde von Rockmusik als Sprachrohr des Kollektivbewusstseins.

 

All das erscheint zur Zeit von „Leto“ noch undenkbar; doch die Ausdruckswut dieser Handvoll Akteure vibriert geradezu vor Aktionsdrang. Da stört kaum, dass manche Details erfunden sind: Es war wohl nicht Naumenko, der 1991 an einem Schlaganfall starb, sondern Boris Grebenschtschikow von der supergroup „Akwarium“, der Zoi unter seine Fittiche nahm.

 

Seit 2017 unter Hausarrest

 

Die Aktualität dieses Rückblicks ist klar. In Putins Russland ergeht es kreativen Individualisten ähnlich: Wegen hanebüchener Vorwürfe, er habe Fördergelder veruntreut, steht Regisseur Serebrennikow seit August 2017 unter Hausarrest. An der Premiere von „Leto“ beim Festival in Cannes im Mai durfte er nicht teilnehmen.