Falsche Vorstellung: Anstelle von „Loro“, auf Deutsch: „Sie“, müsste dieser Film eher „Lui“ heißen, also „Er“ – alles dreht sich nur um einen Mann. Bei der zweiteiligen italienischen Originalversion war die Betitelung sinnvoller: Im hundertminütigen ersten Teil taucht die Hauptperson nie auf; dagegen dominiert sie den zweiten, gleich langen Teil. Doch für die internationale Fassung hat Regisseur Paolo Sorrentino beide Teile verknüpft und um eine Stunde gekürzt; das verleiht ihr eine merkwürdige Unwucht.
Info
Loro - Die Verführten
Regie: Paolo Sorrentino,
204 Min., Italien 2018;
mit: Toni Servillo, Elena Sofia Ricci, Riccardo Scamarcio
Fehltritte fördern Charisma
Doch der Titel-Etikettenschwindel passt zum Thema: Trickserei als Erfolgsrezept. Der milliardenschwere Medienmogul, der vier Mal Regierungschef wurde, beging unzählige Fauxpas. Er war in Dutzende von Affären verwickelt und wurde rund 30 Mal angeklagt, bevor man ihn 2013 erstmals rechtskräftig verurteilte. Bestechung mit der Gießkanne, Mafia-Kontakte, Sex mit Minderjährigen und multiples Lifting: Nichts davon schadete seinem Charisma. Im Gegenteil: Seine Fehltritte steigerten es noch aus Sicht seiner Anhänger. Der traut sich was!
Offizieller Filmtrailer
Nichts ist erfolgreicher als Erfolg
Damit wurde der heute 82-Jährige zu einem der einflussreichsten Politiker unserer Epoche. Mit Silvio Berlusconi entstand der postdemokratische Populismus: Gesetze, Institutionen, informelle Regeln und gute Sitten – alles egal, solange der Parvenü eine johlende Menge hinter sich hat. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg; bleibt er aus, sind irgendwelche Volksfeinde Schuld – für Berlusconi die „Kommunisten“. An seinem Selbstverständnis orientieren sich Nachfolger wie Donald Trump, Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan oder Benjamin Netanjahu. Vielleicht werden bald Zeithistoriker mit Berlusconis Aufstieg eine neue Ära datieren.
Wie kam er an die Macht – und konnte sich dort fast 20 Jahre lang halten? Zur Beantwortung scheint Paolo Sorrentino prädestiniert wie kein zweiter Regisseur. 2008 porträtierte er in „Il Divo“ („Der Göttliche“) Italiens siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti und sezierte dessen Politikstil so schneidend wie süffisant – ein Geniestreich. Fünf Jahre später brillierte Hauptdarsteller Toni Servillo abermals in „La Grande Belleza – Die große Schönheit“; dieser wunderbar bittersüße Abgesang auf die Kulturmetropole Rom erhielt den Auslands-Oscar.
Yacht-Nutte mit Berlusconi-Tattoo
2015 ertrugen dann Michael Caine und Harvey Keitel in „Youth – Ewige Jugend“ lakonisch ihr Altern. Die meisten Filme Sorrentinos kreisen geistreich und liebevoll, fast schon zärtlich, um Phänomene von Niedergang und Verfall. Vermutlich deshalb siedelt er „Loro“ kurz vor der vierten und letzten Amtszeit Berlusconis 2008 an; in diesem Interregnum brütet der Cavaliere über Winkelzüge zur Rückkehr in den Regierungspalast. Eine fragwürdige Entscheidung: als würde man ein Napoleon-Biopic drehen, das nur sein Exil 1814 auf Elba behandelt.
Zunächst stürzt sich der Regisseur in die schmierige Sphäre der Hofschranzen. Sergio (Riccardo Scamarcio), Callgirl-Boss im süditalienischen Tarent, möchte einen Staatsauftrag für den Bau von Kindergärten ergattern. Er lädt einen Lokalpolitiker auf seine Yacht ein und führt ihm eine Nutte zu, die er sich danach koksend selbst vornimmt. Sie trägt auf dem Rücken ein Berlusconi-Tattoo – für Sergio die Vision einer güldenen Zukunft. Wie ausgerechnet ein Zuhälter bei öffentlichen Bauvorhaben abkassieren will, verrät der Film nicht.
Lustlose Orgien römischer Kaiser
Ebenso wenig, wie er sich mit seiner Partnerin Tamara in die höchsten römischen Kreise schleimt und hurt. Silvios Gespielin Kira rät ihm, er solle die Nachbarvilla zu Berlusconis Anwesen auf Sardinien mieten und dort rauschende Feste feiern, um auf sich aufmerksam zu machen. Dass er wilde Partys in umwerfende Bilder übertragen kann, hat Regisseur Sorrentino bereits zum Auftakt von „La Grande Bellezza“ demonstriert.
Doch sein Remake im XXL-Format zündet nicht: Trotz Scharen langbeiniger Schönheiten, pfundweise Puder oder Pillen und schäumendem Schampus auf nackter Haut wirken die Gelage lustlos. Vielleicht, weil 2008 die Spaßgesellschaft längst passé ist und die Folgen der Weltfinanzkrise dräuen. Vielleicht, weil der hier verehrte Gottkaiser längst seiner Dämmerung entgegen wankt: So ähnlich dürften letzte Orgien von Imperatoren wie Caligula und Heliogabal abgelaufen sein.
Traumwohnungs-Verkauf am Telefon
Wenigstens werden Silvios müde Augen gekitzelt; fortan weicht ihm die Kamera nicht mehr von der Seite. In seinem monströsen Feriensitz – einer Mischung aus Hazienda, Designer-Wahnsinn und Michael Jacksons „Neverland“ – hockt oder schlurft er meist allein durch die luxuriöse Leere. Mal kanzelt er „Forza Italia“-Speichellecker ab, mal korrumpiert er Senatoren oder buhlt um die Gunst seiner Gattin Veronica (Elena Sofia Ricci); die Ex-Schauspielerin liest Weltliteratur, macht in moderner Kunst und verachtet ihren Mann.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ewige Jugend" – wunderbare Tragikomödie übers Altern von Paolo Sorrentino
und hier eine Besprechung des Films "The Wolf of Wall Street" – grandiose Börsianer-Groteske von Martin Scorsese mit Leonardo DiCaprio
und hier einen Beitrag über den Film “La Grande Bellezza” – herrliche Rom-Hommage von Paolo Sorrentino, prämiert mit dem Auslands-Oscar 2014
und hier einen Bericht über den Film "What is left?" - amüsant-verzweifelte Doku über den Niedergang der italienischen Linken von Gustav Hofer und Luca Ragazzi
und hier eine Kritik des Films “Cheyenne – This Must Be The Place” - Porträt eines alternden Rockstars mit Sean Penn von Paolo Sorrentino.
Schlaraffenland für schnöde Gier
Da blitzt Berlusconis Klasse auf: Er eroberte die Politik, indem er sie entpolitisierte. Mit der Schimäre eines Schlaraffenlandes, wo jedermann nach Gusto zugreifen könne, wenn man ihn als allgütigen Landespapa nur schrankenlos schalten und walten ließe. Der Cavaliere begriff schon früh, was nach dem Ende aller Ideologien kommen würde: Wenn sämtliche Ideen, Theorien und höheren Werte verblasst sind, bleibt als Anreiz nur noch schnöde Habgier. Und als Feind diejenigen, die den braven Konsumenten „alles wegnehmen“ wollen; für ihn waren es „die Kommunisten“, für seine heutigen Nachfolger „die Ausländer“.
Solche erhellenden Momente sind rar. Dennoch lohnt der Film, weil er zumindest ansatzweise das System Berlusconi skizziert. Ob infantiles Bubblegum-Fernsehen, mit Staatsverschuldung finanzierte Wohnungsbau-Programme oder schamloser Ämterschacher: Alles dient dazu, permanent Wunscherfüllung vorzugaukeln.
Gekommen, um zu bleiben
Diese Kollektiv-Regression mag Sorrentino und seinem italienischen Publikum zu geläufig sein und sie zu sehr anekeln, um Details eingehender darzustellen; das sollten künftig Andere übernehmen. Denn klar ist, um ein Stalin-Wort abzuwandeln: Die Berlusconis kommen und gehen, doch der postdemokratische Populismus ist gekommen, um zu bleiben.