Gaspar Noé

Climax

Die 21 jungen Tänzer tanzen in höchster Ekstase. Foto: Alamode Filmverleih
(Kinostart: 6.12.) Upside down: Extremfilmer Gaspar Noé hebt gern die Kino-Welt aus den Angeln, indem er sie auf den Kopf stellt. Diesmal schickt er eine Tanztruppe mit Drogen auf den kollektiven Horrortrip – für eine rauschhafte Überdosis aus Chaos, Sex und Gewalt.

Gaspar Noés filmisches Werk bewegt sich in einem Grenzbereich. Vermutlich ist das einer der Sätze, die der gebürtige Argentinier und in Frankreich lebende Regisseur am liebsten hört. Und man muss ihm zugestehen: Sein Schaffen balanciert exakt auf dem Grat zwischen infantil und pubertär.

 

Info

 

Climax

 

Regie: Gaspar Noé,

96 Min., Frankreich 2018;

mit: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Giselle Palmer

 

Weitere Informationen

 

Schwer zu entscheiden, ob Noé seine Einfälle tatsächlich für die großartigsten auf der Welt hält und kindliche Freude an ihnen hat – oder ob er seinen Stiefel vor allem deshalb durchzieht, weil er genau weiß, dass er damit für jede Menge Ärger sorgen kann. Auf jeden Fall gibt es in Noés Filmen, so wie bei Menschen im Zwischenstadium von Kind und Teenager, genügend Reize für Auseinandersetzung und Aufregung – was natürlich am besten funktioniert, wenn die Inhalte nicht ganz jugendfrei sind.

 

Kontrollverlust begnadeter Körper

 

Nach einer ziemlich buchstabengetreuen Umsetzung dieses Programms im Arthouse-Porno „Love“ (2015) geht es in „Climax“ trotz des orgastischen Titels nicht nochmals um in 3D gedrehte Ejakulationen, sondern um auf den ersten Blick weniger Verfängliches. Eine junge französische Tanztruppe probt eine Choreografie und feiert sich im Anschluss selbst. Dabei kippt die Kontrolle der begnadeten Körper schnell in ihr Gegenteil um; in chaotische Zustände voller Begehren, Drogen und Blut.

Offizieller Filmtrailer


 

Vom Rausch der Extase zu dem der Gewalt

 

Noé eröffnet den Film mit einem für ihn typischen Kunstgriff, die seinen bisher größten (Skandal-)Erfolg „Irréversible“ (2002) anklingen lässt, nämlich mit dem Ende: einem in Draufsicht gefilmten, pittoresk blutverschmierten Schnee-Engel, gefolgt von den Schlusstiteln. Auch in „Climax“ geht es also um eine Umkehrung. Aus der Verbindung von Techno und Tanz als Rausch der Ekstase macht Noé einen Rausch der Gewalt. Schuld daran ist eine in prächtigen Rot- und Gelbtönen schillernde Schüssel voller Sangría, die es offensichtlich in sich hat.

 

Das klingt bedingt originell und bleibt – trotz aller Pracht und Überdeutlichkeit der Bilder – mit Blick auf weiteren Erkenntnisgewinn eher opak. Doch andernfalls gäbe es gar keinen Film: Wer will schon eine gelungene Party passiv im Kinosessel mitverfolgen? Deswegen schickt Regisseur Noé also seine Darsteller und das Publikum auf einen schlechten Trip.

 

Kamera turnt flexibel wie Tänzer

 

Die interessanten Stärken des Films liegen eindeutig im Formalen; vor allem im Spiel mit Farbe und Dynamik. Die Gegensätze von Naheinstellung versus Panorama und Individuum versus Kollektiv werden in eine Choreografie übertragen, die nicht nur die Virtuosität der Tänzer perfekt in Szene setzt, sondern den gesamten Film rhythmisiert. Der Soundtrack von live gespielten Schallplatten – hauptsächlich Clubmusik-Klassiker der 1990er Jahre – dient dabei als Pulsgeber zur Steigerung einer Klimax des Abgründigen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Love (3D)" - freizügiges Amour-Fou-Drama von Gaspar Noé

 

und hier eine Besprechung des Films "Suspiria" - originelle Neuinterpretation des Tanzschulen-Horrorklassikers von Dario Argento durch Luca Guadagnino mit Tilda Swinton

 

und hier einen Bericht über den Film "The Substance: Albert Hofmann’s LSD" - informative Dokumentation über die halluzinogene Droge von Martin Witz

 

und hier einen Beitrag über den Kompilations-Film "7 Tage in Havanna" - abwechslungsreiches Porträt der Hauptstadt Kubas von sieben Regisseuren, darunter ein Beitragvon Gaspar Noé.

 

Die Kamera turnt durch minutenlange Plansequenzen; sie zeigt sich dabei als mindestens so flexibel wie die tanzenden Darsteller. Dass sie gleich mehrmals Kopf steht, ist Noés Grundprinzip und seinem Hang zum Plakativen geschuldet. Falls irgendwer es noch nicht verstanden haben sollte: Hier wird alles verkehrt herum gezeigt, klar?

 

Klassisches Horror-Setting

 

Zu Anfang werden in einer cleveren Szene die Protagonisten – überwiegend Tänzer ohne vorherige Schauspielerfahrung – wie bei einem Casting vorgestellt und nach ihren Erwartungen und Erfahrungen mit Tanz, Sex und Drogen befragt. Dabei fixiert die Kamera statisch einen alten Fernseher; der wird flankiert – oder eher: eingesperrt – von Stapeln aus Büchern und VHS-Videokassetten: darunter eine Anleitung zum Selbstmord, die SM-Faschismus-Studie „Die 120 Tage von Sodom“ von Pier Paolo Pasolini und Dario Argentos Tanzschulen-Horror „Suspiria“.

 

Auch das Setting des Films bietet ein klassisches Horror-Szenario: eine geschlossene Welt ohne außen. Ein offenbar isoliertes Schulgebäude hat Regisseur Noé in den Farben der Trikolore überdeutlich national markiert; ihm kann niemand lebend entkommen. Dennoch: Für seine Verhältnisse bleibt das Skandalpotenzial diesmal im überschaubaren Rahmen.

 

Hakenkreuz auf der Stirn

 

Gerade deswegen wird der Film gründlich dekoriert mit allerlei Signalen, die wohl provokativ wirken sollen: von einer Choreographin, die als allein erziehende Mutter ihr Kleinkind zur Party mitbringt, über Homosexualität, Paternalismus oder Inzest bis zu Gewalt von Frauen und Gewalt gegen Frauen. Nicht fehlen dürfen außerdem reichlich Arschfickwitze und, als I-Tüpfelchen, ein hübsch auf die Stirn gemaltes Hakenkreuz. Wer auf solche Schlüsselreize steht, wird gut bedient – und wer Tanz, Primärfarben und schlechte Drogen mag, sowieso.