Liebesfilme aus Indien sind in der Regel laut, kreischend bunt und wahnsinnig kitschig. Bollywood liefert hochglänzende Feelgood-Movies am Fließband. Doch die Filmindustrie des Subkontinents dreht nicht nur Mainstream.
Info
Die Schneiderin der Träume
Regie: Rohena Gera,
99 Min., Indien/ Frankreich 2018;
mit: Tillotama Shome, Vivek Gomber, Geetanjali Kulkarni
Sozial unerwünschte Liebe
Unter diesen Arthouse-Produktionen finden sich manchmal echte Juwelen, wie etwa Ritesh Batras „Lunchbox“ von 2013. Zu dieser Kategorie zählt auch „Die Schneiderin der Träume“: Drehbuchautorin und Regisseurin Rohena Gera lotet in ihrem Debütfilm ein für die indische Gesellschaft heikles Thema aus: unschickliche Liebesbeziehungen.
Offizieller Filmtrailer
Die Oberschicht rundum bedienen
Der stille, sensible und äußerst ehrliche Film ist ein kleines Meisterwerk geworden, der mit respektvoll distanziertem Blick ein bestimmtes Milieu beobachtet, wobei er Klischee- und Kitschfallen vermeidet.
Ratna (Tillotama Shoma) ist eine junge Witwe vom Land, die in der Megacity Mumbai ihr Auskommen sucht. Wie Millionen anderer Frauen arbeitet sie als Dienstmädchen für die reiche Oberschicht, die in schicken Appartements voll verglaster Hochhäuser wohnt und sich von vorne bis hinten bedienen lässt.
Allzeit dienstbarer Geist
Ratna wohnt in einer kleinen Kammer am Ende des Korridors. Ihren Job, rund um die Uhr für ihre Arbeitgeber zur Verfügung zu stehen und zugleich so unsichtbar wie möglich zu sein, meistert sie aufmerksam und zurückhaltend. Doch eigentlich träumt die willensstarke Frau davon, Modedesignerin zu werden – eine Hoffnung, die für sie ebenso unrealistisch ist wie ein Millionengewinn im Lotto.
Ihr Arbeitgeber heißt Ashwin (Vivek Gomber). Der junge Mann, der in den Vereinigten Staaten studiert hat und nur seinen Eltern zuliebe in die Heimat zurückkehrte, stand schon kurz vor seiner Hochzeit. Doch die platzte im letzten Moment; nun bewohnt er allein eine riesige Wohnung.
Distanz unter einem Dach
Dass ein Junggeselle mit einem jungen Dienstmädchen unter einem Dach lebt, ist im konservativen Indien nicht vorgesehen. Die ungeplante Situation löst auf allen Seiten Irritationen aus. Die soziale Distanz zwischen Ashwin mit dem gebrochenen Herzen und der stillen Ratna könnte nicht größer sein.
Was am hinduistischen Kastenwesen liegt, dass bis heute den Alltag prägt: Extreme Ungleichheit zwischen Gleichaltrigen, wie sie im Westen kaum vorstellbar wäre, beruht auf der Vorstellung, dass Angehörige niedriger Kasten tatsächlich als Menschen wenig wert sind.
Reichtum macht nicht glücklich
Doch Ratna und Ashwin, der einige Jahre in den USA gelebt hat, verstehen sich: Sie kann nachvollziehen, wie er sich fühlen mag, nachdem er seine Träume familiären Erwartungen geopfert hat. Überrascht stellt sie fest, dass Reichtum kein Schlüssel zum Glück ist. Er wiederum weiß zu schätzen, dass Ratna alles tut, um ihn zu entlasten und zu trösten.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem Kleiderschrank feststeckte" - charmant überdrehte indisch-europäische Roadmovie-Komödie von Ben Scott mit Bérénice Bejo
und hier eine Besprechung des Films "Ein Junge namens Titli" – brillantes indisches Kleingangster-Drama in Neu-Dehli von Kanu Behl
und hier einen Bericht über den Film "Lunchbox" – fein abgeschmecktes indisches Metropolen-Melodram von Ritesh Batra mit Irrfan Khan
und hier einen Beitrag über den Film "Machines" - bildgewaltige Dokumentation über indische Textilfabrik-Arbeiter von Rahul Jain.
Raus aus dem Konventions-Korsett
Und er bewundert ihren Ehrgeiz: etwa, weil sie trotz aller Hindernisse versucht, einen Ausbildungsplatz als Schneiderin zu bekommen. Ashwin schenkt Ratna eine Nähmaschine und ermutigt sie, sich nicht in ihr Schicksal zu fügen. Familie und Freunde reagieren erst mit Argwohn, bald mit Spott und Druck auf sein ungebührliches Verhalten.
Wie Ratna und Ashwin miteinander umgehen, wie sie ihren Lebensraum teilen, Schritt für Schritt mit den Konventionen brechen, indem sie Vertraulichkeiten austauschen und sich schließlich ineinander verlieben, fängt der Film wunderbar mit viel Zartheit und Vorsicht ein.
Viel Raum für kleine Gesten
Was leicht in eine unglaubwürdige Liebesgeschichte voller Klischees hätte abgleiten können, ist hier respektvolle Annäherung an eine Kultur und feinste Schauspielkunst in einem. Regisseurin Gera gibt ihren Protagonisten viel Raum für Ungesagtes und kleine Gesten; dabei gibt sie die heikle Konstellation niemals der Lächerlichkeit preis.
Ihrem Film gelingt es, ein moralisch aufgeladenes Thema ganz leicht und ohne erhobenen Zeigefinger zu verhandeln. Das offene Ende mag ein wenig zu optimistisch geraten sein, macht aber Hoffnung, dass die kommenden Generationen Indiens Mut für ein anderes Miteinander aufbringen.