Die gute Nachricht ist: Jafar Panahi erweitert unaufhörlich seinen Aktionsradius. 2010 war der oppositionelle iranische Regisseur – zeitgleich mit seinem befreundeten Kollegen Mohammad Rasoulof – zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden; außerdem verhängte das Gericht ein 20-jähriges Berufs-, Interview- und Ausreiseverbot gegen ihn. Sein Platz in der Jury der Berlinale 2011 blieb leer.
Info
Drei Gesichter
Regie: Jafar Panahi,
100 Min., Iran 2018;
mit: Behnaz Jafari, Jafar Panahi, Marziyeh Rezaei
Goldener Bär für Taxi-Chauffeur
„Closed Curtain“, im Wettbewerb der Berlinale 2013 zu sehen, spielte in einem abgelegenen Haus am Meer, in dem der Filmemacher selbst, ein Schriftsteller und eine junge Frau Zuflucht suchen. Zwei Jahre später traute sich Panahi zumindest auf die Straße: „Taxi Teheran“ wurde in und um einen Wagen herum aufgenommen, in dem der Regisseur wechselnde Fahrgäste durch Irans Hauptstadt chauffiert – damit gewann er 2015 den Goldenen Bären.
Offizieller Filmtrailer
Besuch in der alten Heimat
Nun wagt er sich in die Weiten der iranischen Provinz. „Drei Gesichter“ führt als Road Movie durch unwegsame Bergtäler im äußersten Nordwesten des Iran; hier wohnen vor allem turksprachige Azeris, die Titularnation des benachbarten Aserbaidschan. Panahi stammt aus dieser Region und versteht die dortigen Dialekte – gewiss ein Vorteil, wenn man von den lokalen Behörden unbemerkt drehen will.
Anlass für den Ausflug ins wüstenhafte Grenzland ist ein mysteriöser Videoclip, den die populäre Schauspielerin Behnaz Jafari, die sich selbst verkörpert, über soziale Medien zugeschickt bekommt. Eine junge Möchtegern-Mimin mit Schlinge um den Hals fleht um Hilfe, sonst werde Schreckliches geschehen – dann bricht der Clip ab. Also fahren Jafari und Panahi in das Dorf, in dem er entstand, um der Sache nachzugehen.
Hupsignale statt Straßenbreite
Der Weg dorthin, eine schmale und zusehends unwegsamere Geländepiste, ist nicht nur so windungsreich wie das Leben selbst. Wie es sich für ein gutes Road Movie gehört, schlingert das Duo auch von einer Überraschung in die nächste. Die sind meist ausgesucht kurios: etwa ein verletzter und erschöpfter Zuchtbulle, der sich auf dem Weg niedergelassen hat und ihn versperrt. Doch er dürfe keinesfalls gewaltsam weggetrieben werden, warnt der Hirte: Seine Hoden seien Gold wert.
Ansonsten verschafft man sich freie Fahrt am besten mit einem ausgefeilten Hup-Code: Anstatt die Zufahrtsstraße zu verbreitern, haben die Dörfler ein kompliziertes Regelwerk aufgestellt, wer wo bei welchem Hupsignal wem freie Durchfahrt gewähren muss. Ohnehin bestimmen in dieser Gegend zahlreiche Traditionen das Dasein: Sie engen die Nachwuchs-Schauspielerin (Marziyeh Rezaei) ebenso ein wie ihr Vorbild Shahrzad. Zu Schah-Zeiten ein berühmter Kinostar, haust sie nun verachtet und isoliert in einer Kate am Rande des Dorfes.
Linkische Großstädter auf dem Land
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Taxi Teheran" - warmherziger Berlinale-Siegerfilm 2015 von Jafar Panahi
und hier eine Besprechung des Films "Jahreszeit des Nashorns" – brillantes Polit-Psychodrama über Exil-Iraner in der Türkei von Bahman Ghobadi
und hier einen Bericht über den Film "Manuscripts don't burn" - lakonische Parabel über Geheimdienst-Morde im Iran von Mohammad Rasoulof
und hier das Interview “Filme im Gefängnis machen” mit Regisseur Mohammad Rasoulof über seinen Film “Good Bye“, eine Auswanderungs-Parabel in Teheran.
Dabei kreuzt der Regisseur schalkhaft die Realitätsebenen; etwa, indem er seine Mutter anrufen lässt, die ihm das Filmemachen vorhält – oder alle Dorfmädchen kreischend vom TV-Star Jafari ein Autogramm erhaschen wollen. Wozu Fiktion und Wirklichkeit trennen, wenn Szenen und Dialoge, die ständig auf den Bildschirme flimmern, viel stärker die Vorstellungskraft kitzeln als der monotone Alltag ringsum? Die Fantasie kommt zwar nicht an die Macht, aber sie lässt sich auch nicht einsperren.
Zensur listig austricksen
Diese raffiniert ungezwungene Manier, mit einfachen Mitteln die größten Themen anzuschneiden, ist im Kino selten geworden. Früher wurde sie häufig von Filmemachern in Ostblock-Staaten praktiziert, etwa dem Georgier Otar Iosseliani oder den Regisseuren der tschechoslowakischen „Neuen Welle“ der 1960er Jahre – kein Wunder: Sie schlugen sich mit ähnlichen Beschränkungen der Zensur herum. Doch kaum jemand trickste sie so listig aus wie Panahi.
Und immer besser: War „Taxi Teheran“ noch wenig mehr als ein Hörspiel mit talking heads und der Goldene Bär dafür eine Solidaritäts-Bekundung, ist „Drei Gesichter“ ein rundum gelungener Film. So vergnüglich, abwechslungs- und facettenreich, wie man es sich nur wünschen kann – und der Preis in Cannes für das beste Drehbuch hoch verdient.