Benedikt Erlingsson

Gegen den Strom

Halla (Halldóra Geirharðsdóttir) lässt sich im warmen Geysir-See treiben. Foto: Pandora Film Verleih
(Kinostart: 13.12.) Doppelleben einer Amazone in atemberaubender Landschaft: Regisseur Benedikt Erlingsson inszeniert seinen Ökothriller-Komödie auf Island mit frischem Blick, Sendungsbewusstsein und einem Faible für skurrile Charaktere.

Ökologisches Bewusstsein, eine fast 50-jährige Frau als Hauptfigur, dazu ein kapitalismuskritischer Duktus: Zeitgemäßer als „Gegen den Strom“ kann ein Film kaum sein. Doch der zweite Spielfilm von Benedikt Erlingsson ist alles andere als trockenes Thesenkino. Noch mehr als in seinem Debüt „Von Menschen und Pferden“ gelingt es ihm, seine isländische Heimat in all ihrer Skurrilität zu zeigen, und zugleich mehr im Sinn zu haben als offensichtliche Pointen.

 

Info

 

Gegen den Strom

 

Regie: Benedikt Erlingsson;

101 Min., Island 2018;

mit: Halldóra Geirharðsdóttir, Jóhann Sigurðarson, Davíð Þór Jónsson,

 

Website zum Film

 

Die Hauptfigur ist eine der bemerkenswertesten Frauenfiguren, die man in jüngerer Zeit im Kino sehen konnte: Die 49-jährige Halla (Halldóra Geirharðsdóttir) leitet den lokalen Chor und ist allseits beliebt. Sie lebt allein in einer hübschen Wohnung, in der Bilder von Nelson Mandela und Mahatma Gandhi andeuten, dass sie noch andere Interessen hat.

 

Mit Pfeil und Bogen gegen Strommasten

 

Mit schöner Regelmäßigkeit kehrt sie ihrem bürgerlichen Leben den Rücken, schnappt sich Wanderschuhe, Rucksack, Pfeil und Bogen und zieht in der malerischen Natur los, um gegen den Strom zu kämpfen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Ihr Ziel sind die Strommasten eines heimischen Energieversorgers.

Offizieller Filmtrailer


 

Familienzuwachs aus der Ukraine

 

Die sind drauf und dran, von einer chinesischen Firma aufgekauft zu werden; dadurch könnte noch unberührten Gegenden auf Island eine ökologische Katastrophe drohen. Erstaunlicherweise gelingt es Halla tatsächlich, Hochspannungs-Leitungen kurzzuschließen und damit ganze Strommasten niederzureißen, was ihr in den lokalen Medien den Ruf einer Öko-Terroristin eingebracht hat.

 

Während die Polizei im Dunkeln tappt – und in einem hübschen Running Gag immer wieder einen ahnungslosen und zunehmend verzweifelten südamerikanischen Fahrrad-Touristen verhaftet – bekommt Halla einen unerwarteten Brief: Ihrem Antrag, ein Kind zu adoptieren, wird nach Jahren stattgegeben. Aus dem Kriegsgebiet in der Ost-Ukraine soll der ersehnte Familienzuwachs kommen.

 

Komplementäre Zwillingsschwester

 

Man könnte nun annehmen, dass Halla durch diese Nachtricht sanftmütiger wird, ihrer radikalen Seite abschwört und sich ganz auf ihr Leben als Mutter vorbereitet. Doch so einfach macht es sich Regisseur Erlingsson nicht. Das Kind, das Halla adoptieren will, verstärkt für sie eher die Notwendigkeit, gegen die voranschreitende Umweltzerstörung anzukämpfen.

 

Bei ihr könnte man von einem holistischen Weltbild sprechen. Alles ist mit allem verbunden: eine Weltsicht, die Hallas Zwillingsschwester Ása (ebenfalls gespielt von Geirharðsdóttir) wohl teilen würde, obwohl sie das Gegenteil ihrer Schwester verkörpert. Strebt diese nach friedlicher Koexistenz mit der Natur, will sich Ása in ein hinduistisches Ashram zurückzuziehen, um ihren inneren Frieden zu finden. Die Schwestern wirken wie zwei Seiten einer Medaille.

 

Jeder für jeden

 

Auf dem kleinen Eiland scheinen Verwandtschafts-Verhältnisse sowieso eine große Rolle zu spielen. Wenn Halla auf der Flucht vor der Polizei bei einem Bauern Unterschlupf findet, dort feststellt, dass sie um ein paar Ecken wohl mit ihm verwandt ist, und dann auch noch mit ihrem dicken Wollpullover inmitten seiner Schafherde untertaucht, wirkt das zunächst wie ein hübsch skurriler Einfall.

 

Hintergrund

 

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Vor allem aber illustriert diese Episode ganz nebenbei, dass auf Island mit seinen rund 340.000 Einwohnern der Genpool extrem klein ist. Wenn fast alle Bewohner miteinander verwandt sind – dann sind sie auch in gewisser Weise füreinander verantwortlich. Das Schöne an „Gegen den Strom“ ist, dass Regisseur Erlingsson beiläufig vielschichtige Momente inszeniert, wobei ihm gelingt, unterschiedlichste Stimmungen nebeneinander stehen zu lassen.

 

Island sieht einfach gut aus

 

Immer wieder tauchen drei Musiker unvermittelt im Bild auf, die mit Tuba, Schlagzeug und Akkordion isländische Weisen spielen. Oder ein Gesangstrio in traditionellem Kostüm, das melancholische Lieder singt. Angesichts des skurrilen Grundtons und der sanften Sozialkritik mag man sich ein bisschen wie in den Filmen von Aki Kaurismäki fühlen.

 

Doch weder ist Erlingssons Heldin so träge wie dessen Figuren, noch wirken Islands Landschaften so düster wie die in Finnland. Vermutlich wäre es sowieso unmöglich, in den kargen Weiten Islands mit seinen Gletschern und Fjorden einen visuell unattraktiven Film zu drehen. Doch es hilft ungemein, so ein gutes Gespür für Bilder zu haben wie Erlingsson und sein Kameramann Bergsteinn Björgúlfsson.

 

Amazone für alle Fälle

 

Sie zeigen atemberaubende Landschaften, in denen die riesigen Strommasten zwar durchaus ästhetische Qualitäten haben, vor allem aber wie Fremdkörper wirken. Und dazwischen, winzig klein, Halla mit Pfeil und Bogen: weniger ein weiblicher Don Quijote als vielmehr eine Amazone, die bereit scheint, es mit allem aufzunehmen. Wären Filme mit ökologischem Sendungsbewusstsein und Zeitgeist-Thematik doch stets so wuchtig, skurril und bewegend wie Benedikt Erlingssons „Gegen den Strom“!