Hirokazu Kore-Eda

Shoplifters – Familienbande

Die ganze „Familie“ vereint: Nobuyo (Sakura Andó), Yuri (Miyu Sasaki), Shota (Kairi Jyo), Osamu (Lily Franky), Aki (Mayu Matsuoka) und Hatsue (Kilin Kiki). Foto: © Wild Bunch Germany
(Kinostart: 27.12.) Geborgenheit am Rand der Gesellschaft: Im Cannes-Gewinnerfilm erzählt der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda von einer Gemeinschaft, die ein Mädchen vor Missbrauch rettet – und fragt subtil, passend zum Fest, was Familie eigentlich ausmacht.

Sie stehlen, betrügen das Sozialamt und nötigen Verwandte, ihnen finanziell unter die Arme zu greifen. Auf dem Papier wirkt die Familie um Osamu (Lily Franky) und Nobuyo (Ando Sakura) alles andere als sympathisch. Doch wir befinden uns in einem Film von Hirokazu Kore-eda, und da ist vieles anders. Sein neues Werk „Shoplifters“ wurde im Mai bei den Filmfestspielen von Cannes überraschend, aber durchaus verdient mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.

 

Info

 

Shoplifters - Familienbande

 

Regie: Hirokazu Kore-Eda,

121 Min., Japan 2018;

mit: Lily Franky, Kairi Jyo, Miyu Sasaki

 

Weitere Informationen

 

Seit Mitte der 1990er Jahre dreht Hirokazu mit schöner Regelmäßigkeit Filme, die Familienstrukturen beleuchten. Nicht nur in diesem Aspekt erinnert sein Werk an das von Ozu Yazujiro, einem der berühmtesten japanischen Regisseure überhaupt. Ähnlich ist auch die Beiläufigkeit, mit der die Geschichten erzählt werden. Nichts wird ausgestellt, keine soziale Botschaft steht im Vordergrund. Bisweilen muss man genau hinsehen, um zu verstehen, wovon hier eigentlich erzählt wird.

 

Viele Köpfe auf engem Raum

 

Nach und nach lernt man in „Shoplifters“ eine Familie kennen, die in einem winzigen Appartement lebt. Das ist in Japan nicht selten. Doch derart viele Menschen wohnen für gewöhnlich dann doch nicht auf so engem Raum. Neben dem Paar Osamu und Nobuyo gehören dazu die Großmutter Hatsue (Kiki Klein), die ältere Schwester Aki (Matsuoka Mayu) und der kleine Shota (Jyo Kairi).

Offizieller Filmtrailer


 

Wahlverwandtschaft statt Herkunftsfamilie

 

Der befindet sich einmal mehr auf Diebestour mit dem Vater, als die beiden auf die kleine Yuri (Sasaki Miyu) stoßen, die sich zwischen Mülltonnen versteckt hält. Kurzentschlossen nehmen sie das Mädchen mit nach Hause und gliedern es in die Familie ein. Ein Akt der Nächstenliebe? Als sie im Fernsehen erfahren, dass Yuri von ihren Eltern gesucht wird, bringen sie das Mädchen nicht etwa zur Polizei, sondern schneiden ihr die Haare ab und geben ihr einen anderen Namen.

 

Denn Yuri hat Abdrücke an den Handgelenken, die eine unmissverständliche Sprache sprechen: Sie wurde misshandelt. Osamu und Nobuyo entscheiden, dass Yuri bei ihnen besser aufgehoben ist als in ihrer Herkunftsfamilie. Schließlich definiert sich ihre Gemeinschaft sowieso vor allem über Wahlverwandtschaft.

 

Familiäre Idealvorstellungen

 

Osamu und Nobuyo sind verheiratet, doch darüber hinaus werden die Verhältnisse in dieser Wohngemeinschaft wenig definiert: Hatsue ist offenbar mit niemanden blutsverwandt, ebenso Aki. Allein Shota scheint der leibliche Sohn von Osamu zu sein. Letztlich bleibt jedoch auch das offen. Dennoch funktioniert diese Gruppe, die sich teils aus Not, teils aus Bequemlichkeit, vor allem aber aus Zuneigung zusammengefunden hat, wie eine richtige Familie – auch wenn sie gar nicht dem konventionellen Ideal entspricht.

 

Immer wieder hat Hirokazu in seinen Filmen die Brüchigkeit derartiger Idealvorstellungen aufgezeigt und Lügen offengelegt, mit denen die Illusion einer funktionierenden Familie aufrecht erhalten werden. Und zudem die Konflikte beleuchtet, die entstehen, wenn die Realität des Zusammenlebens zu sehr von gesellschaftlichen Vorstellungen abweicht.

 

Schlagzeile wird Filmstoff

 

Den Schein wahren, die soziale Ordnung nicht stören: Dafür wird in Japan, mehr noch als in vielen anderen Gesellschaften, so mancher Missstand in Kauf genommen – was Hirokazu immer wieder in der ihm eigenen, subtilen Weise zeigt. „Shoplifters“ erinnert stark an „Nobody Knows“ (2004), den ersten internationalen Erfolg des Regisseurs. Das Drama erzählte von vier Kindern, die von ihrer Mutter in einer Wohnung zurückgelassen werden und fortan für sich selbst sorgen, ohne dass es die Umgebung bemerkt.

 

Hintergrund

 

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und hier eine Besprechung der Bestseller-Verfilmung "Naokos Lächeln" von Haruki Murakami über unerfüllte Jugendliebe in Japan um 1970 durch Tran Anh Hung.

 

„Nobody Knows“ basierte auf einer Zeitungsmeldung, die seinerzeit die japanische Öffentlichkeit erschütterte – so wie auch Hirokazus neuer Film. Die Grundidee von „Shoplifters“ hat Hirokazu ebenfalls den Schlagzeilen entnommen und daraus seinen Filmstoff entwickelt: eine kritische Reflexion der sozialen Strukturen in seiner Heimat.

 

Diebstahl = Gesichtsverlust

 

Diese Filmfamilie hat auf, gelinde gesagt, unorthodoxe Weise zusammengefunden. Vor allem finanziert sie ihren Lebensunterhalt auf eine Art, die in Japan noch tabuisierter ist als anderswo: Diebstahl führt direkt zum Gesichtsverlust.

Nicht viel besser ist, wie Hatsue sich durchschlägt: Sie besucht regelmäßig ihren Ex-Schwiegersohn, um ihm Zahlungen abzunötigen. Und auch Osamus und Nobuyo haben mit ihren Jobs auf dem Bau und in einer Wäscherei kaum mehr Sozialprestige als Aki, die in einem Striplokal arbeitet.

 

Liebevolle Gemeinschaft

 

Doch was auf den ersten Blick wie ein würdeloses Dasein wirkt, erweist sich als liebevolle Gemeinschaft, die in vielerlei Hinsicht besser funktioniert als so manche „normale“ Familie. Durch diese Erkenntnis wird „Shoplifters“ keineswegs zu einem schwermütigen Film. Regisseur Hirokazus gelingt es, auch in abgründigen Situationen die Menschlichkeit seiner Protagonisten herausstellen. Ein erstaunlicher Film darüber, was Familie eigentlich ausmacht.