Die unbekannten Meisterwerke: Kaum zu glauben, dass die meisten dieser Bilder noch nie in Deutschland gezeigt wurden. Obwohl sie handwerklich so brillant und gefällig aussehen, dass sie auch hierzulande eigentlich viele Liebhaber finden müssten. Eigentlich – wäre da nicht ihre Entstehungszeit: Sie wurden im Italien der 1920er Jahre geschaffen, also in der Anfangsphase des dortigen Faschismus.
Info
Unheimlich real: Italienische Malerei der 1920er Jahre
28.09.2018 - 13.01.2019
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags + freitags
bis 20 Uhr
im Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen
Katalog 39,90 €
Mussolini förderte moderne Kunst
Aus dem Ersten Weltkrieg ging Italien, obwohl auf Seiten der Siegermächte, finanziell und moralisch bankrott hervor. Wirtschaftskrisen, Streiks und soziale Unruhen erschütterten das Land, bis Benito Mussolini 1922 mit dem „Marsch auf Rom“ seiner Schwarzhemden die Macht übernahm. Unter tatkräftiger Mithilfe der alten Eliten – nominell blieb Italien bis 1946 eine Monarchie. Der Duce, bis 1914 Chefredakteur der Sozialisten-Parteizeitung, war für alles Neue aufgeschlossen; durch üppige Förderung wollte er zeitgenössische Künstler in den faschistischen Staat einbinden.
Impressionen der Ausstellung
Neusachlich vs. Realmagisch
Zugleich wandten sich die meisten Künstler von den Vorkriegs-Avantgarden ab: Das Feiern impulsiver Affekte im Expressionismus oder die Technik- und Kriegsbegeisterung im Futurismus waren diskreditiert. In ganz Europa versuchte man, unter dem Schlagwort einer „Rückkehr zur Ordnung“ formale Errungenschaften der Avantgarden mit traditionell figurativer Malerei zu verbinden. Daraus ging in Deutschland die „Neue Sachlichkeit“ hervor, in Italien der „Magische Realismus“.
Beide Begriffe wurden etwa zur gleichen Zeit geprägt: „Neue Sachlichkeit“ 1925 vom Kunsthistoriker Gustav Hartlaub, „Magischer Realismus“ im selben Jahr von seinem Kollegen Franz Roh, und „Realismo Magico“ 1927 vom italienischen Schriftsteller Massimo Bontempelli. Was unterschied beide Strömungen? Neusachliche Kunst eines George Grosz, Otto Dix oder Christian Schad war naturalistisch, sozialkritisch und gern karikaturhaft überspitzt.
Pittura metafisica + Surrealismus
Dagegen trat der Magische Realismus verhaltener auf: mit alltäglichen, oft unscheinbaren Sujets, in geläufig klassizistischer Manier dargestellt. In Deutschland ließen sich nur wenige Werke dieser Haltung zurechnen: etwa geometrische Veduten von Alexander Kanoldt, die erst idyllischen, später apokalyptischen Panoramen von Franz Radziwill oder bonbonbunte erotische Fantasien von Rudolf Schlichter. Doch in Italien wurde der Realismo Magico in den 1920er Jahren zur dominierenden Stilrichtung. Dessen Spielarten stellt das Museum Folkwang erstmals umfassend vor: mit mehr als 80 Gemälden von rund 30 Künstlern.
Sie hatten ein Vorbild vor Augen: die „metaphysische Malerei“ (Pittura metafisica) von Giorgio de Chirico. Er hatte während des Kriegs – ab 1917 gemeinsam mit dem Ex-Futuristen Carlo Carrà – einen neuartigen Bildkosmos erschlossen: menschenleere Kulissenstädte, so hell wie unwirklich beleuchtet, bevölkert von Gliederpuppen, antiken Spolien oder Sperrgut. Indem er Objekte aus ihrem vertrauten Kontext löste, verlieh de Chirico ihnen geheimnisvolle Vieldeutigkeit; damit wurde er zur wichtigen Inspirationsquelle des Surrealismus.
Subtil manipulierte sichtbare Wirklichkeit
Mit ihm ist der Magische Realismus verwandt – bei einem entscheidenden Unterschied. Die Surrealisten vertrauten auf die kreative Kraft des Unterbewussten; sie integrierten in ihre Bilder bedenkenlos fantastische Imaginationen. Dagegen bleibt der Realismo Magico der sichtbaren Wirklichkeit verpflichtet; doch schafft er mit subtilen Manipulationen eine Atmosphäre des Abseitigen und Abgründigen, die nicht leicht zu definieren ist.
Zumal die Maler recht unterschiedliche Stilmittel verwendeten; die thematisch geordnete Ausstellung präsentiert einige Varianten. Angefangen mit Bildnissen: Bruno Croatto porträtierte sich und andere mit penibler Akribie wie ein Salonmaler des 19. Jahrhunderts. Die versonnen blickende „Frau im Café“ von Antonio Donghi hätte mit adrettem Kleid, Kurzhaarfrisur und dezentem Hütchen ebenso gut Christian Schad Modell sitzen können.
Selbstporträt im Aschenbecher
Befremdlicher wirken die Ganzkörper-Bildnisse von Felice Casorati: „Cynthia“ im schlicht braunem Gewand mit modischem Bubikopf greift sich ans Herz und starrt geistesabwesend ins Leere – als wär’s die Schlussszene eines Kino-Melodrams. Und „Silvana Cenni“, streng frontal mit geschlossenen Augen und abgewinkelten Armen, thront in einem fahl-düsteren Raum erhaben wie eine Madonnenfigur von Piero della Francesca. Nicht von ungefähr: Etliche Maler studierten eifrig die Kompositionen von Frührenaissance-Meistern.
Dagegen porträtiert Vito Timmel in postimpressionistischer Tüpfel-Technik eine stattliche „Signora Rostirolla“ mit Abendrobe samt Perlenkette – und drückt ihr ein „magisches Notizbuch“ (magico taccuino) in die Hand. Frönt die Dame okkulten Praktiken? Noch rätselhafter geht Cesare Sofianopolo mit sich selbst um: Er malt sich doppelt – von vorne und hinten – an einem Kanal in Triest, als Gruppe in fünf verschiedenen „Masken“ beim Karneval, und einmal gar sein Antlitz als Aschekrümel neben einer ausgedrückten Zigarette.
Vertrackter Kampf der Geschlechter
Man sollte meinen, nicht jedes Genre eigne sich für vieldeutige Aufladung. Aber magischen Realisten gelang das sogar bei konventionellen Aktdarstellungen. „Erster Verdienst“ nannte Cagnaccio di San Pietro sein Bild einer nackten Frauenfigur, die sich kopfüber auf einem Laken räkelt – neben ihr liegt eine Schale mit Geld. Angesichts ihres muskulösen Leibs in verdrehter Pose und entspanntem Antlitz geht es hier offenbar um mehr als nur simple Sozialkritik an Armutsprostitution.
Ähnlich Cagnaccios „Zoologie“: Ein nackter Mann hält seine ebenso nackte Partnerin an den Handgelenken auf dem Bett fest. Ihr beider Gesichtsausdruck scheint freudig erregt. Neben ihnen ein wie das Bild betiteltes Buch, verfasst von „Adam & Eva“ und „ergänzt von der modernen Gesellschaft“ – ein vertrackter Kommentar zum Kampf der Geschlechter. Andere Akte erscheinen wie monumentale Statuen, obwohl sie nur gewöhnlicher Körperpflege nachgehen.
Doppelbödig im besten Sinne
Cagnaccio, der neben Casorati und Donghi wohl konsequenteste Vertreter des Realismo Magico, wandte dessen Prinzipien auf alle möglichen Objekte an. Seine kleinformatigen Stillleben von Früchten, Gemüse, Besteck oder Gläsern wirken wie überscharf herauspräpariert. Das Bild „Der Abend (Der Rosenkranz)“ mit zwei schwarz gekleideten Greisinnen, im Straßenwinkel vor blauem Himmel sitzend, wird zum ergreifenden Memento Mori. Und die beiden „Treidler“, die halbnackt im Zuggeschirr einen viel zu großen Kahn die Mole entlang ziehen, erscheinen wie Kreuzungen aus Marathonläufern und Arbeitskämpfern.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Giorgio de Chirico - Magie der Moderne" - eindrucksvolle Retrospektive seiner Pittura metafisica in der Staatsgalerie, Stuttgart
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Rudolf Schlichter – Eros und Apokalypse" - Retrospektive des deutschen Malers des Magischen Realismus in Koblenz + Halle/ Saale
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Magritte - Der Verrat der Bilder" – große Werkschau des belgischen Surrealisten in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/ Main
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Traum-Bilder. Ernst, Magritte, Dalí u.a. - Die Wormland-Schenkung" mit Werken des Surrealismus in der Pinakothek der Moderne, München.
Abschied vom Nachmittag in Fiesole
Dieses Unbehagen mit dem herrschenden Faschismus kurzzuschließen, wäre falsch: Er galt in den 1920er Jahren als moderne, zukunftsweisende Ideologie – seine Gewaltexzesse waren noch nicht abzusehen. Eher dürfte darin die Melancholie von Abschied und Verlust zum Ausdruck kommen, wie sie einem der berühmtesten Bilder der Schau enthalten ist.
Baccio Maria Bacci malte 1926/9 einen „Nachmittag in Fiesole“: Zwei junge Paare in leger formeller Kleidung sitzen am Esstisch mit Wein, Früchten und Blumen in einem ansonsten fast kahlen Raum. Ein Mann spielt Gitarre, zwei hören andächtig zu, eine Frau steht in sich gekehrt am hohen, offenen Fenster. Draußen scheint die Sonne, doch drinnen herrschen kühle, gedeckte Farben vor. Dass die Personen Bacci selbst, ein Malerfreund und ihre Gattinen sind, ist nicht wichtig.
Ruin-Angst des Bürgertums
Die ganze Szene atmet einen kostbaren Moment völliger Ausgeglichenheit, vielleicht des Glücks – der unweigerlich vergehen wird. Diese empfindsamen und musisch begabten Ästheten mit ihrem unprätentiös guten Geschmack haben enge Verwandte in der damaligen Literatur: im Personal der Romane von Marcel Proust, Robert Musil oder Thomas Mann. Als Vertreter eines kultivierten Bürgertums, das rasant ruiniert wurde: durch Krieg, Inflation und Revolution.
Um solche Plagen abzuwenden, wandten sich viele dem Faschismus zu: ein massenmörderischer Irrtum. Zwar hat die heutige Lage mit der vor 100 Jahren nichts gemein, doch manche Ängste und Bedrohungsgefühle sind offenbar ähnlich. Das macht dieses Panoptikum des Magischen Realismus in Italien so attraktiv – und so zeitgemäß.