
So sieht ein kleiner Garten Eden irgendwo in der ostdeutschen Provinz aus: In der verwilderten Sommeridylle sprießt Grün harmonisch durcheinander, Vogelgezwitscher füllt die Luft, im Hintergrund grüßt heimelig ein Backstein-Häuschen. Dort leben der selbstständige Damenschneider Adam (Florian Teichtmeister) und seine Freundin, die Kellnerin Evelyn (Anne Kanis), ruhig und beschaulich dahin.
Info
Adam und Evelyn
Regie: Andreas Goldstein
95 Min., Deutschland 2018;
mit: Florian Teichtmeister, Anne Kanis, Lena Lauzemis
Mit Schildkröte im Wartburg
Aber dann schaut der stille Adam einer Kundin bei der Anprobe etwas zu tief in die Augen. Daraufhin macht die verletzte Evelyn sich gemeinsam mit ihrer Kollegin Simone (Christin Alexandrow) und deren Westbekanntschaft Michael (Milian Zerzawy) auf den Weg zum Balaton. Düpiert zuckelt Adam samt seiner Hausschildkröte im „Wartburg“-Oldtimer hinterher. Dabei gabelt er Katrin (Lena Lauzemis) auf; sie ist ohne Ausweispapiere unterwegs, will aber unbedingt in die Bundesrepublik.
Offizieller Filmtrailer
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Am Plattensee entspinnt sich zwischenzeitlich ein Paartausch-Reigen – der abrupt aufhört, als Ungarn seine Grenze zu Österreich öffnet. Wer weiß schon, ob so eine Gelegenheit noch einmal kommen wird? Unversehens finden sich Adam und Evelyn in ihrem Wartburg in der Bundesrepublik wieder. Letztlich sei ihre „Flucht“ das Resultat einer „Männer- und Frauengeschichte“, erklärt Evelyn später einem verdutzten westdeutschen Einbürgerungs-Beamten.
Der gleichnamige Roman (2008) von Ingo Schulze endet, wo andere Geschichten erst anfangen: In einer eigenwilligen Mischung aus Melancholie und Lakonie erzählt er von jenem kurzen Moment im Sommer 1989, als alles in der Schwebe war. Das Alte war bereits unmerklich vergangen, aber das Kommende hatte noch keine konkrete Gestalt angenommen.
Kapitalismus ist längst komplett
Durch die Öffnung der Grenze werden die Protagonisten unverhofft mit Möglichkeiten konfrontiert sind, von denen sie immer geträumt hatten – zumindest glaubten sie das. Doch jeder Neubeginn birgt auch Verluste. Das ist vor allem dem schweigsamen Adam klar, dem sein kleines Gartenparadies im Grunde immer ausgereicht hat.
Was soll er anfangen mit der großen Freiheit? Im Kapitalismus gibt es bereits alle nur erdenklichen Kleider. Im Sozialismus hingegen war er gewissermaßen konkurrenzlos, Zeit und Geld spielten nur eine untergeordnete Rolle. Diese sorgsam abgesteckte Lebensnische, die Adam in der DDR bewohnte, wird im wiedervereinigten Deutschland unwiederbringlich verloren gehen.
Leben heißt, im Westen leben
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Gundermann" - differenziertes Biopic über den DDR-Liedermacher von Andreas Dresen
und hier einen Beitrag über den Film "In Zeiten des abnehmenden Lichts" - vielschichtige DDR-Tragikomödie von Matti Gschonneck
und hier einen Bericht über den Film "Als wir träumten" - mitreißendes Porträt der Jugend im Nachwende-Leipzig von Andreas Dresen nach einem Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase
und hier eine Besprechung des Films "Westwind" - zartbittersüßes Melodram über DDR-Flucht 1988 aus Liebe von Robert Thalheim.
Sie zeigen die DDR und das damalige Ungarn in geradezu verklärenden Sommerbildern. Menschenleere Landschaften sind voller wildromantischer Orte; selbst bröckelnde Straßenzüge wirken im warmen Sonnenlicht noch pittoresk. Das schrammt hart an der Grenze zur Ostalgie entlang – illustriert aber auch sehr anschaulich den Verlust, den viele frühere DDR-Bürger empfinden, wenn sie an ihre frühere Republik denken.
Paradiesische Nischenrepublik
Viele von ihnen haben die hereinbrechenden Reise- und Konsumfreiheiten mit Arbeitslosigkeit und der Entwertung ihrer Biografien bezahlt; solche Erfahrungen speisen bis heute hartnäckige Ressentiments gegenüber den „Wessis“. Insofern passt die Paradies-Metapher des Filmtitels durchaus; allerdings war die DDR ein Arbeiter-und-Bauern-„Paradies“ mit sehr eng gesteckten Grenzen.
Als Adam und Evelyn schließlich in der Bundesrepublik ankommen, stellt sich jäh der Herbst ein. Nun fällt fahles Licht auf sterile Inneneinrichtungen; derweil werden Zukunftspläne geschmiedet und Realitätszwänge abgewogen. Evelyn erwartet ein Kind, das in der besten aller Welten aufwachsen soll, denn sie erhofft sich das Ende von Geschichte überhaupt. Ihr Optimismus erscheint aus heutiger Sicht geradezu rührend.