Weggehen, wenn es am schönsten ist: 1977 hatte Bernd Zimmer gemeinsam mit Rainer Fetting, Salomé, Helmut Middendorf und anderen in Berlin die „Galerie am Moritzplatz“ gegründet – als Ausstellungsort für ihre rasch hingepinselten Gemälde. Ein Jahr später schuf Zimmer ein ikonisches Werk der „Neuen Wilden“: das dreiteilige, fast zehn Meter lange U-Bahn-Bild „1/10 Sekunde vor der Warschauer Brücke“. Es diente als Wandschmuck im legendären Punk-Club „SO36“.
Info
Bernd Zimmer - Kristallwelt
19.10.2018 - 03.02.2019
täglich außer montags
10 bis 17 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Neuen Galerie, Schöne Aussicht 1, Kassel
Katalog 29,90 €
In die Südsee + Uckermark
Seither widmet sich Zimmer der Naturmalerei. Inspirationen dafür holt er sich auf zahlreichen Reisen, die ihn um die halbe Welt führen: in die Karibik, nach Südostasien und Polynesien, die Levante und afrikanische Wüsten, den Südwesten der USA, ins russische Karelien – aber auch nach Brandenburg und in die Uckermark, wo er 2007 ein zweites Atelier bezieht. Fast jedes Reiseziel regt ihn zu einer neuen Bilderserie an.
Feature über + mit Bernd Zimmer; © Künstlerhaus Markoberdorf
Werk-Überblick ohne Anfänge
So entsteht in gut vier Jahrzehnten ein riesiges Œuvre von mehr als 2600 Gemälden und 6000 Arbeiten auf Papier. Anlässlich seines 70. Geburtstags stellt nun die Neue Galerie in Kassel rund 50 seiner Werke aus; anschließend soll die Schau nach Aschaffenburg und Wilhelmshaven wandern. Diese kompakte Auswahl bietet einen guten Überblick über alle Werkphasen.
Mit Ausnahme der Anfänge: Auf einem Selbstporträt von 1978 dreht der Künstler sein Haupt dynamisch zur Seite, mit wehendem Schopf und markantem Schnauzer – den er heute noch trägt. Doch aus der Berliner Zeit sind nur drei düstere Leinwände mit Stahlträgern und Schädeln zu sehen; offenbar betrachtet Zimmer seine Motive von damals als überholt.
Allzeit voller Schwung
Obwohl diese schnell skizzierten Streben und Flächen denselben Schwung aufweisen, der seine Malweise bis heute prägt. Das zeigen noch die kargsten seiner späteren Bilder voller Himmel, Wolken und Dünen aus Libyen oder Namibia. Breite Pinselstriche und kräftige Farbkontraste sorgen für den Eindruck weiter Panoramen. Wenige, aber subtil aufeinander abgestimmte Farbtöne lassen den Eindruck räumlicher Tiefe entstehen.
Wobei Zimmer betont, dass seine Bilder keine realen Perspektiven wiedergeben. Sie sind imaginäre Landschaften, entstanden aus zahlreichen verschiedenen Eindrücken und dem Eigensinn der Farbmaterie beim Malprozess; erst im Kopf des Betrachters setzen sie sich zu vermeintlichen Natur-Ansichten zusammen.
Wie auf Mikro-, so auf Makroebene
Was man aus der Nähe bemerkt: Spritzer und unregelmäßige Farbverläufe lassen erkennen, welche Rolle der Zufall beim Zustandekommen spielt. Für solche Effekte legt Zimmer gern die Bildträger auf den Boden und verteilt Pigmente schüttend und tropfend, wie einst der Abstrakte Expressionist Jackson Pollock. Aber kontrollierter, damit Farbfäden und -schlieren scheinbar die Umrisse von Geäst oder Wasserläufen ergeben.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Aufruhr in Augsburg: Deutsche Malerei der 1960er bis 1980er Jahre" mit Werken von Bernd Zimmer in der Staatsgalerie Moderne Kunst, Augsburg
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Geniale Dilletanten: Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland" mit einem U-Bahn-Bild von Bernd Zimmer (im Videoclip) in München, Hamburg + Dresden
und hier einen Bericht über die Doppel-Ausstellung "Rainer Fetting - Berlin" – große Retrospektive des "Neuen Wilden" in der Berlinischen Galerie + Galerie Deschel, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Kunst für Alle - Der Farbholzschnitt in Wien um 1900" - gelungene Überblicks-Schau in Frankfurt/ Main + Wien
und hier einen Beitrag über die Schau "Wenzel Hablik – Expressionistische Utopien" - farbenfroh fantastische Natur-Malerei im Martin-Gropius-Bau, Berlin.
Der Zuschauer als Mitschöpfer
So balancieren diese Darstellungen auf dem schmalen Grat zwischen figurativer Malerei und Abstraktion – je nach Standpunkt und Vorstellung des Zuschauers. Ihn zum Mitschöpfer eines Bildes zu machen, ist nichts Neues. Seit der Romantik galt Landschaftsmalerei als Medium der Selbsterkenntnis; die Widergabe subjektiver Eindrücke sollte zugleich Einsichten in die harmonische Weltordnung vermitteln.
Von den Impressionisten radikalisierte vor allem Claude Monet diesen Ansatz mit unzähligen Bildern seines Seerosenteichs in Giverny: Jedes hielt eine bestimmte Lichterscheinung fest und demonstrierte zugleich, wie unendlich wandelbar sie sind – und wie eng begrenzt jede Wahrnehmung.
Beeindruckende Farbholzschnitte
Solche Ambitionen scheinen auch Zimmer bei seinen „Cosmos“-Großformaten zu leiten, die mögliche Zustände des Weltalls veranschaulichen sollen. Doch ihre Satellitenfoto-Optik in vibrierenden Farben driftet in opulente Dekoration für Volkssternwarten ab. Ebenso gefällig erscheinen die bunten „Alles fließt“-Leinwände; eher als an Lichtreflexe auf Gewässern lassen sie an schillernde Öllachen oder Tuschekästen denken. Oder an den exzentrisch-ekstatischen Expressionisten Wenzel Hablik (1881-1934).
Am eindrucksvollsten kommt Zimmers kleinteilige Bildraum-Bearbeitung zur Geltung, wenn er seine Palette reduziert; etwa bei Farbholzschnitten. Diese aufwändige Technik, in der man für jeden Farbton einen weiteren Druckstock schneiden muss, beherrscht er virtuos: Lodernde Baumstämme, gespiegelt in strudelnden Wasserflächen, erinnern mit einfachsten Mitteln an die schlichte Schönheit natürlicher Kreisläufe. Dabei wirkt sein schwungvoller Gestus äußerst stimmig – und anders als etliche Werke der „Neuen Wilden“, die inzwischen ziemlich alt aussehen, völlig zeitlos.