
In einem Beiruter Gefängnis schaut ein Arzt in den Mund von Zain (Zain Al Rafeea). Er stellt fest, dass der Junge keine Milchzähne mehr hat, also mindestens zwölf Jahre alt sein muss. Dafür wirkt er allerdings arg schmächtig. Trotzdem soll er mehr als fünf Jahre in Haft bleiben.
Info
Capernaum -
Stadt der Hoffnung
Regie: Nadine Labaki,
123 Min., Libanon 2018;
mit: Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw, Fadi Kamel Youssef
Botengänge statt Schulbesuch
In Rückblenden erzählt der Film Zains bisheriges Leben – so wie er es, unterstützt von seiner Anwältin (gespielt von der Regisseurin Nadine Labaki) dem Gericht schildert: Mit vielen Geschwistern und seinen Eltern (Kawtar Al Haddad und Fadi Kamel Youssef), die sich illegal im Land befinden, wächst Zain in einem Armenviertel von Beirut auf. Über Wasser hält sich die Familie, indem sie Drogen ins nahe gelegene Gefängnis schmuggelt.
Offizieller Filmtrailer
Verhasster Chef will Schwester
An einen Schulbesuch ist nicht zu denken, auch wenn Zain das bei seinem Vater immer wieder einfordert. Stattdessen muss er für den Kaufmann Assad, der zugleich ihr Vermieter ist, Botengänge erledigen. Zain hasst seinen Chef – nicht nur, weil er für ihn arbeiten muss. Viel schlimmer ist, dass Assad ein Auge auf seine jüngere Schwester Sahar (Cedar Izam) geworfen hat.
Für sie würde Zain alles tun. Er besorgt ihr, als ihre Regelblutungen einsetzen, Binden und hilft ihr, ihre Geschlechtsreife geheim zu halten. Dennoch hält Assad bald offiziell bei den Eltern um die Hand ihrer Tochter an. Die willigen ein. Sahar wird fortgebracht, bevor Zain mit ihr fliehen kann. Damit ist für Zain das Maß voll: Wutentbrannt verlässt er sein Zuhause.
Authentische Darsteller
Damit ist das dramatische Potenzial seiner Leidensgeschichte jedoch noch nicht ausgeschöpft. Dass es der Regisseurin, Drehbuchautorin und Schauspielerin Nadine Labaki in ihrem vierten Spielfilm durchweg gelingt, diese überzeugend darzustellen, liegt erstens an den dokumentarisch wirkenden Bildern von den Originalschauplätzen in Libanons Hauptstadt. Beim Festival in Cannes gab es für „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ neben standing ovations auch den Preis der Jury.
Zum anderen ist die Wucht des parabelhaften Dramas vor allem den Darstellern zuzuschreiben; sie wurden vor Ort auf der Straße gecastet. Für Regisseurin Labaki war entscheidend, dass sie die geschilderten Lebensbedingungen aus eigener Erfahrung kannten. Insbesondere die eindrückliche Performance ihrer Kinderschauspieler zeigt: Labakis Konzept ist aufgegangen. Die eigene Mischung aus Härte, Stolz und Verletzlichkeit, Gerechtigkeitssinn, Wut und stoischem Ertragen der Umstände, die Mimik und Gestik von Zain Al Rafeea prägen, wäre wohl kaum nachzuempfinden gewesen.
Schutzsuche beim Kriminellen
Bei seinen Bemühungen, auf eigenen Beinen zu stehen und einen Job zu finden, lernt der Junge Rahil (Yordanos Shifera) kennen, eine illegale Migrantin aus Äthiopien, die in Beirut als Putzfrau arbeitet; sie gewährt ihm Unterschlupf. Im Gegenzug beaufsichtigt Zain ihr einjähriges Kind Yonas.
Für Zain wiederholt sich bald seine Verlustgeschichte. Als Rahil bei einer Razzia verhaftet wird und nicht nach Hause kommt, bleibt er mit Yonas zurück. Den bringt er fortan mit Zuckerwasser und allem, was er ergaunern kann, durch. Bis er nicht mehr weiter weiß: Er legt ihrer beider Schicksal in die Hände von Aspro. Der ist in Rahils Welt das Gegenstück zu Assad in seiner eigenen Vergangenheit und erweist sich bald als kriminell.
Vom Gefängnis ins Fernsehen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Affront" - Zwei-Personen-Streit als packende Parabel des Nahostkonflikts von Ziad Doueiri
und hier eine Besprechung des Films "Wer weiß, wohin?" - fantasievolle Tragikomödie über Frauenpower im Libanon von Nadine Labaki
und hier einen Bericht über den Film "Innen Leben - Insyriated" - eindringliches Syrienkriegs-Drama von Philippe Van Leeuw.
Er sieht rot, schnappt sich ein Messer und sticht auf Assad ein, was zu seiner Verhaftung führt. Und mit Unterstützung einer Fernsehshow, die er aus dem Gefängnis heraus anrufen kann, auch zum besagten Prozess gegen seine Eltern und die Ungerechtigkeit der Welt.
Gericht als soziale Bühne
Auch in „Der Affront“, einem weiteren hoch gelobten Sozialdrama aus dem Libanon, das Ende Oktober 2018 ins Kino kam, tragen die Protagonisten Konflikte, die stellvertretend für gesellschaftliche Probleme stehen, vor Gericht aus. Bei „Capernaum“ wirkt es jedoch deutlich konstruierter, dass diese Instanz bemüht wird.
Zwar hat Labaki recht, wenn sie es als wesentlichen Erfolg ansieht, dass ihr Film Laien-Schauspielern aus Beiruts Armenvierteln eine Bühne bietet, um das eigene Elend in der Welt drastisch darzustellen. Doch dass ein simulierter Gerichtsprozess dabei eine Chance für Gerechtigkeit eröffnen soll, scheint angesichts des zuvor geschilderten sozialen Chaos (eine der Bedeutungen des hebräischen Worts Capernaum) zu schön, um wahr zu sein.