Berlin

Freiheit – Die Kunst der Novembergruppe 1918-35

Otto Möller: Straßenlärm (Detail), 1920. © Nachlass Christoph Möller, Repro: Kai-Annett Becker
Radikal pluralistisch und demokratisch: Die Künstlergruppe stellte hierzulande alle Stile der klassischen Moderne vor. Von Extremisten angefeindet und den Nazis verboten, war sie fast vergessen – daran erinnert die Berlinische Galerie mit einer fulminanten Schau.

Am Ausstellungs-Anfang tut sich ein Abgrund auf: „Arbeiter: Hunger, Tod naht“, warnen Balkenlettern neben einem Knochenmann, der über Dächer stapft und Menschen zerquetscht: „Streik zerstört, Arbeit ernährt.“ Da hilft nur eines: „Tut eure Pflicht: arbeitet“. Dieses expressionistische Plakat schuf der Künstler Heinz Fuchs Anfang 1919 im Auftrag des „Werbedienstes der deutschen sozialistischen Republik“; er unterstand der Übergangsregierung unter Friedrich Ebert, der im Februar erster Reichspräsident wurde.

 

Info

 

Freiheit – Die Kunst der Novembergruppe 1918-35

 

09.11.2018 - 11.03.2019

täglich außer dienstags

10 bis 18 Uhr

in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Berlin

 

Katalog 34,80 €

 

Weitere Informationen

 

Fuchs gehörte der Berliner „Novembergruppe“ an; sie hatte sich Ende November 1918 formiert und wurde rasch zu einer der wichtigsten Künstlervereinigungen in der Weimarer Republik. Die Liste ihrer Mitglieder – und mehr noch all der Künstler im In- und Ausland, deren Arbeiten sie ausstellte – liest sich wie ein Who is who der Avantgarden in der Vor- und Zwischenkriegszeit. Dennoch ist die Novembergruppe heute weitgehend vergessen, was diese Gedenkschau ändern will. Warum ist das überhaupt nötig?

 

Radikal Verwerfen + Anwenden

 

Nach dem Sturz der Monarchie beflügelte revolutionäre Aufbruchsstimmung auch etliche Künstler. Noch im November 1920 formulierte die Gruppe vollmundig, sie sei „radikal im Verwerfen bisheriger Ausdrucksformen/ radikal im Anwenden neuer Ausdrucksmittel.“ Im Vorjahr hatte sie mehr öffentlichen Einfluss verlangt: bei Baukunst-Gestaltung und der Neuorganisation von Kunstschulen und Museen, die weniger elitär und volksnäher werden sollten.

Impressionen der Ausstellung


 

Ästhetischer Verbalradikalismus

 

Der Verbalradikalismus der Gruppe war also rein ästhetisch, nicht politisch gemeint. Sie erhoffte keinen Umsturz und wollte ihn auch nicht herbeipinseln, sondern forderte bessere Arbeits- und Absatzmöglichkeiten für Künstler. Damit deren Werke leichter ihre Betrachter erreichen und bilden könnten; Kunst als Schule des Sehens und Verstehens. Alles gut sozialdemokratische Ziele: So wurde die Novembergruppe zum natürlichen Verbündeten der Kulturpolitik des neuen Staates.

 

Bereits im Sommer 1919 erhielt sie in der offiziellen „Kunstausstellung Berlin“, die zuvor vom konservativen Geschmack des Kaisers geprägt gewesen war und nun erneuert wurde, eigene Säle. Dort präsentierte die Novembergruppe 170 Exponate von etwa 80 Künstlern; im Folgejahr schon knapp 450 Werke von 128 Künstlern.

 

Gerahmte Rülpser + Fürze

 

Zum ersten Mal traf moderne Kunst auf ein Massenpublikum von mehr als hunderttausend Leuten – und die Ablehnung war harsch. Kritiker sprachen von „Tollhaus“, „Lachkabinett“ und „gerahmten Rülpsern und Fürzen“, auch in vermeintlich fortschrittlichen Publikationen. Manche Besucher wurden sogar handgreiflich.

 

Darauf reagierte die Gruppe mit radikaler Volkspädagogik: Ab 1920 wurden Ausstellungsführer mit Werk-Erklärungen angeboten. Und mit radikalem Stilpluralismus: zu sehen waren alle zeitgenössischen Strömungen, anfangs meist „Kubo-Futuro-Expressionismus“, später auch Abstraktion, Konstruktivismus und Neue Sachlichkeit.

 

Lamm löst Wolf ab

 

Wobei deren Sensationswert sich rasch erschöpfte; man gewöhnte sich bald an solche Seherlebnisse. „Von ‚Gewagtem‘ ist eigentlich nicht mehr viel zu reden“, notierte bereits 1925 ein Rezensent: „Wo man den Wolf vermutete – wer betrat nicht die Ausstellungen nach dem Kriege mit leichtem Herzklopfen? – steht ein Lamm.“

 

Postmoderne Beliebigkeit avant la lettre: Während die Habitués schon gähnten, verlief die Entwicklung der Novembergruppe turbulent. Nach heftiger Pressekritik drohten die Behörden, die Gruppe von der „Großen Berliner Kunstausstellung“ 1921 auszuschließen. Um das zu verhindern, lehnte sie ab, zwei Bordellszenen der Dadaisten Otto Dix und Rudolf Schlichter zu zeigen.

 

Dada als Kunst-Kommunismus

 

Daraufhin verließen beide mit Dada-Wortführer Raoul Hausmann, George Grosz, Hannah Höch und sechs weitere Künstlern die Gruppe: Ihr warfen die Renegaten Opportunismus und bourgeoise Kommerzialisierung vor. Es war im Grunde die gleiche Anklage, die Kommunisten damals gegen die SPD erhoben. Zu Unrecht: 1922 wurden zwei Bilder von Georg Scholz als „unzüchtig“ beschlagnahmt.

 

Dafür traten ab 1922 zahlreiche Architekten der Novembergruppe bei und funktionierten sie um. Von 1923 an zeigten sie ihre Entwürfe in eigenen Sälen, Anfang 1924 wählten sie Ludwig Mies van der Rohe zum Vorsitzenden: Die Gruppen-Ausstellungen wurden zum Schaufenster des „Neuen Bauens“. Drei Jahre später war diese freundliche Übernahme vorbei: Die Architekten traten fast geschlossen wieder aus und organisierten sich in „Der Ring“ neu.

 

Auslöschung selbst bezahlen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Glanz und Elend in der Weimarer Republik" mit Werken der Novembergruppe in der Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main

 

und Beiträge über Mitglieder der Novembergruppe:

 

"George Grosz in Berlin" – umfassende Werkschau im Bröhan-Museum, Berlin

 

"Max Pechstein - Künstler der Moderne" – solide Werkschau im Bucerium Kunst Forum, Hamburg

 

"Rudolf Belling - Skulpturen und Architekturen" – gelungene Retrospektive im Hamburger Bahnhof, Berlin

 

"Otto Dix: Der böse Blick" – spektakuläre Gedenkschau in den Kunstsammlungen K20, Düsseldorf

 

"Hannah Höch: Revolutionärin der Kunst" – erste Präsentation des Spätwerks in Mannheim + Mülheim

 

"Hans Richter – Begegnungen: Von Dada bis heute" – große Retrospektive des Multimediakunst-Pioniers im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

"Rudolf Schlichter - Eros und Apokalypse" – erste Werkschau seit 18 Jahren in Koblenz + Halle/Saale

 

"Piet Mondrian - Die Linie" – überzeugende Ausstellung seines Frühwerks im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

"Otto Freundlich - Kosmischer Kommunismus" - eindrucksvolle Retrospektive in Köln + Basel.

 

1929 raffte sich die Novembergruppe zu einer Jubiläumsschau mit dezidiert engagierter Kunst auf, um ihr zehnjähriges Bestehen zu feiern. Vergeblich: Ihr liefen die Mitglieder davon. 1933 wurde sie von den Nazis verboten, zwei Jahre später aus dem Vereinsregister getilgt – den Behörden-Akt mussten die letzten Getreuen selbst bezahlen. Seither fristet die Gruppe eine Fußnoten-Existenz in Kunsthistoriker-Schriften; daraus wird sie von der Berlinischen Galerie nun mit Aplomb hervorgeholt.

 

Mit einer so kompakten wie klugen Auswahl: 120 Exponate zeichnen die windungsreiche Geschichte der Gruppe nach. Jedes veranschaulicht einen anderen Aspekt ihrer Ausstellungen – einige von Stars des Kunstbetriebs wie Dix, Grosz oder Höch, die meisten aber von heute weniger bekannten Künstlern.

 

Beschlagnahmter Seemannstraum

 

Da wird deutlich, wie rasch Avantgarde-Stilmittel verwässert und zu gefällig modernistischen Werkserien ausgewalzt wurden. Aber auch, wie kühn manche Experimente ausfielen: Moritz Melzer montierte für „Segnung“ bemalte Lamellen auf die Leinwand und erzeugte damit drei Bilder in einem – nur im Vorbeigehen zu erkennen.

 

Georg Scholz ist nicht nur mit seiner konfiszierten Lithografie „Sentimentaler Matrose“ vertreten – der Seemann träumt beim Akkordeonspiel von seiner nackten Braut. Scholz‘ Ölgemälde „Industriebauern“ von 1920 verbreitet immer noch blanken Horror: mit drei feist-deformierten Gestalten, altmeisterlich akkurat porträtiert. Ähnlich ätzende Sozialkritik bieten nicht nur Grosz‘ ikonische „Stützen der Gesellschaft“ (1926), sondern auch der Blick in einen „Irrensaal“ (1925) von Heinrich Ehmsen.

 

Keine ästhetische Alleinherrschaft

 

Direkt daneben hängt das genaue Gegenteil: spartanisch abstrakte De-Stijl-Kompositionen von Piet Mondrian und Theo van Doesburg. Auch El Lissitzky konnte 1923 in einer Gruppen-Schau erstmals sein legendäres Gesamtkunstwerk „Prounenraum“ aufbauen. Zwei Jahre später wurde die Kino-Matinee „Der absolute Film“ vor 900 Zuschauern uraufgeführt: mit Experimentalfilmen von Fernand Léger, Hans Richter, Walter Ruttmann und anderen.

 

Ihren Anspruch, sämtliche Kunstformen ihrer Zeit vorzustellen, nahm die Vereinigung radikal ernst – und diese Gedenkschau stellt das kongenial nach. Damit betonen die Kuratoren ihren liberalen Charakter: Anders als zahllose Künstlerklubs vor und nach ihr beanspruchte sie keine ästhetische Alleinherrschaft, sondern verstand sich als Forum für Entdeckungen.

 

Doppelter Untergang

 

Ihr verdanken viele Klassiker der Moderne den ersten großen Auftritt. Kaum eine andere Institution hat zu ihrer Popularisierung in Deutschland so viel beigetragen wie die Novembergruppe. Als radikal demokratische Einrichtung: Kein Wunder, dass sie gemeinsam mit der ersten deutschen Republik unterging.