Niles Attallah

Rey

Der selbst ernannte König Orélie-Antoine de Tounens (Rodrigo Lisboa) hat eine Vision. Foto: Real Fiction Filmverleih
(Kinostart: 3.1.) Ein Film über das andere Ende der – und dabei nicht ganz von dieser Welt: 1860 wollte sich ein Franzose zum König von Patagonien aufschwingen und scheiterte kläglich. Seine Geschichte erzählt Regisseur Atallah als surreales Experimentalkino.

Diese kuriose Fußnote in den Geschichtsbüchern ist fast vergessen: 1858 reiste der Anwalt Orélie-Antoine de Tounens (1825-1878) aus der französischen Provinz nach Chile. Zwei Jahre darauf wollte er in Patagonien, dem äußersten Süden Lateinamerikas, das Königreich von Araukanien ausrufen.

 

Info

 

Rey

 

Regie: Niles Attallah,

90 Min., Chile/ Frankreich/ Niederlande 2017;

mit: Rodrigo Lisboa, Claudio Riveros

 

Weitere Informationen

 

Bereits zuvor hatten jedoch Chile und Argentinien diese Region jeweils für sich beansprucht, die dünn von Indigenen besiedelt war. Allerdings widersetzten sich die wehrhaften Mapuche erfolgreich den spanischen Kolonisatoren und ihren Nachfahren, so dass sie faktisch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend unabhängig blieben.

 

Korrespondenz des Königs in spe

 

Diese unübersichtliche Gemengelage wollte sich De Tounens (Rodrigo Lisboa) offenbar zu Nutze machen. Begleitet von einem einheimischen Führer (Claudio Riveros), setzte er über den Grenzfluss über und nahm mit den Indigenen Kontakt auf, mit deren Anführern er zuvor korrespondiert hatte. Angeblich wurde er wenig später von den Mapuche-Häuptlingen zum König gewählt.

Offizieller Filmtrailer


 

Prozess endet mit Verbannung

 

Als sich der Franzose um die offizielle Anerkennung seines eigenmächtig proklamierten Königreiches bemühte, machte Chile kurzerhand De Tounes den Prozess und verwies ihn des Landes. Mehrere Rückkehrversuche nach Patagonien misslangen ihm; am Ende starb der Abenteurer verarmt in seiner Heimat. Heute ist sein Möchtegern-Reich, für das sogar nominell Thronfolger bereit stehen, nur noch wenigen Menschen ein Begriff.

 

Diese unglaubliche Episode greift der chilenisch-amerikanische Filmemacher Niles Atallah in seinem zweiten Langfilm „Rey“ („König“) auf. Ihm geht es keineswegs um eine akribische Aufarbeitung der damaligen Ereignisse, deren Fakten ohnehin nur bruchstückhaft bekannt sind; sie wurden zum Fundament einer reichen Legendenbildung. Stattdessen spielt der Regisseur mit diesen Fragmenten, setzt sie neu zusammen und erschafft seine eigene, surrealistische anmutende Story.

 

Zwei Varianten des Kolonialismus

 

Damit steht er in einer Reihe von Regisseuren in Lateinamerika, die sich in jüngster Zeit formal und erzählerisch mutig der Vergangenheit ihres von der Kolonialherrschaft geprägten Kontinents stellen. So etwa das bildgewaltige Epos „Der Schamane und die Schlange“ (2015) von Ciro Guerra über einen Indianer, der zwei weiße Forscher im Abstand von Jahrzehnten durchs Amazonasgebiet führt und ihnen dabei sowohl grausame Folgen der Eroberung zeigt als auch ungeahnte spirituelle Dimensionen eröffnet. In „Zama“ (2017) der Argentinierin Lucrecia Martel versinken wiederum die Nachfahren der conquistadores in einem Strudel aus Langeweile und Absurditäten.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Zama" - bildgewaltiges Drama über spanische Kolonialoffiziere im Südamerika des 18. Jahrhunderts von Lucrecia Martel

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Schamane und die Schlange" – brillantes Doppelporträt zweier Amazonas-Forschungspioniere von Ciro Guerra

 

und hier einen Artikel über den Film "Neruda" - grandioses Biopic über Chiles Nationaldichter von Pablo Larraín

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der Perlmuttknopf" – exzellenter Essay-Film über die Verfolgung von Oppositionellen + Indios in Patagonien von Patricio Guzmán, mit Silbernem Bären 2015 prämiert

 

und hier einen Bericht über den Film „¡No!“ – packendes Polit-Drama über das Ende der Pinochet-Diktatur in Chile von Pablo Larraín.

 

„Rey“ führt diese Auseinandersetzung fort. Die Figur von De Tounens oszilliert zwischen seiner Anmaßung, sich zum König der Indigenen aufzuschwingen, und seiner Vision eines unabhängigen Mapuche-Reiches. Im Prozess gegen ihn fordert er vergeblich, man möge auch die Stimmen der Ureinwohner anhören. Doch bleibt offen, ob er – falls seine Usurpation erfolgreich gewesen wäre – nur eine Variante des Kolonialismus gegen eine andere ausgetauscht hätte.

 

Wiedergänger von Don Quixote

 

Um diese bizarre Geschichte zu erzählen, verzichtet Regisseur Niles Atallah konsequent auf alle Kinokonventionen; sein höchst eigenwilliges Experiment macht „Rey“ zu einem einzigartigen Seherlebnis. Passagen in Realfilm, die den Anwalt auf seiner Reise durch Patagonien begleiten, wechseln mit Szenen des Schauprozesses, den ihm später die chilenischen Behörden machen. Dabei tragen alle Darsteller Masken – was das Ritualhafte dieses Prozesses betont, dessen Urteil von vornherein feststeht.

 

Im Laufe des Filmes gewinnt das surreale Element immer mehr die Oberhand; De Tounens steigert sich in Visionen eines imaginären Königreichs der Träume hinein. Für diesen französischen Wiedergänger von Don Quixote wird Patagonien zum unerreichbaren Sehnsuchtsland.

 

Filmnegative in Erde vergraben

 

Um die schwer fassbare Innenwelt seiner Hauptfigur zu bebildern, greift Atallah tief in die Experimentalfilm-Trickkiste. Manche Effekte wirken trashig, erinnern aber zugleich an die Frühzeit des Kinos. So bearbeitete der Regisseur sein analoges Filmmaterial mit Kolorierung und Einkratzungen; einen Teil davon vergrub er sogar für einige Zeit in der Erde, damit es möglichst stark gealtert erscheint – ähnlich fabriziert der kanadische Filmemacher Guy Maddin seine Fake-Stummfilme.

 

Die korrodierten Negative schaffen psychedelisch anmutende Bilder, die im letzten Drittel zu einer halluzinatorischen Sequenz geschnitten werden Was immer man von der Hauptfigur halten mag: Angesichts der ansonsten allgegenwärtigen Hochglanzbilder und geläufigen Erzähl-Formeln fällt „Rey“ völlig aus dem Rahmen – ein Film über das andere Ende der, und dabei nicht ganz von dieser Welt.