Diese kuriose Fußnote in den Geschichtsbüchern ist fast vergessen: 1858 reiste der Anwalt Orélie-Antoine de Tounens (1825-1878) aus der französischen Provinz nach Chile. Zwei Jahre darauf wollte er in Patagonien, dem äußersten Süden Lateinamerikas, das Königreich von Araukanien ausrufen.
Info
Rey
Regie: Niles Attallah,
90 Min., Chile/ Frankreich/ Niederlande 2017;
mit: Rodrigo Lisboa, Claudio Riveros
Korrespondenz des Königs in spe
Diese unübersichtliche Gemengelage wollte sich De Tounens (Rodrigo Lisboa) offenbar zu Nutze machen. Begleitet von einem einheimischen Führer (Claudio Riveros), setzte er über den Grenzfluss über und nahm mit den Indigenen Kontakt auf, mit deren Anführern er zuvor korrespondiert hatte. Angeblich wurde er wenig später von den Mapuche-Häuptlingen zum König gewählt.
Offizieller Filmtrailer
Prozess endet mit Verbannung
Als sich der Franzose um die offizielle Anerkennung seines eigenmächtig proklamierten Königreiches bemühte, machte Chile kurzerhand De Tounes den Prozess und verwies ihn des Landes. Mehrere Rückkehrversuche nach Patagonien misslangen ihm; am Ende starb der Abenteurer verarmt in seiner Heimat. Heute ist sein Möchtegern-Reich, für das sogar nominell Thronfolger bereit stehen, nur noch wenigen Menschen ein Begriff.
Diese unglaubliche Episode greift der chilenisch-amerikanische Filmemacher Niles Atallah in seinem zweiten Langfilm „Rey“ („König“) auf. Ihm geht es keineswegs um eine akribische Aufarbeitung der damaligen Ereignisse, deren Fakten ohnehin nur bruchstückhaft bekannt sind; sie wurden zum Fundament einer reichen Legendenbildung. Stattdessen spielt der Regisseur mit diesen Fragmenten, setzt sie neu zusammen und erschafft seine eigene, surrealistische anmutende Story.
Zwei Varianten des Kolonialismus
Damit steht er in einer Reihe von Regisseuren in Lateinamerika, die sich in jüngster Zeit formal und erzählerisch mutig der Vergangenheit ihres von der Kolonialherrschaft geprägten Kontinents stellen. So etwa das bildgewaltige Epos „Der Schamane und die Schlange“ (2015) von Ciro Guerra über einen Indianer, der zwei weiße Forscher im Abstand von Jahrzehnten durchs Amazonasgebiet führt und ihnen dabei sowohl grausame Folgen der Eroberung zeigt als auch ungeahnte spirituelle Dimensionen eröffnet. In „Zama“ (2017) der Argentinierin Lucrecia Martel versinken wiederum die Nachfahren der conquistadores in einem Strudel aus Langeweile und Absurditäten.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Zama" - bildgewaltiges Drama über spanische Kolonialoffiziere im Südamerika des 18. Jahrhunderts von Lucrecia Martel
und hier eine Besprechung des Films "Der Schamane und die Schlange" – brillantes Doppelporträt zweier Amazonas-Forschungspioniere von Ciro Guerra
und hier einen Artikel über den Film "Neruda" - grandioses Biopic über Chiles Nationaldichter von Pablo Larraín
und hier einen Beitrag über den Film "Der Perlmuttknopf" – exzellenter Essay-Film über die Verfolgung von Oppositionellen + Indios in Patagonien von Patricio Guzmán, mit Silbernem Bären 2015 prämiert
und hier einen Bericht über den Film „¡No!“ – packendes Polit-Drama über das Ende der Pinochet-Diktatur in Chile von Pablo Larraín.
Wiedergänger von Don Quixote
Um diese bizarre Geschichte zu erzählen, verzichtet Regisseur Niles Atallah konsequent auf alle Kinokonventionen; sein höchst eigenwilliges Experiment macht „Rey“ zu einem einzigartigen Seherlebnis. Passagen in Realfilm, die den Anwalt auf seiner Reise durch Patagonien begleiten, wechseln mit Szenen des Schauprozesses, den ihm später die chilenischen Behörden machen. Dabei tragen alle Darsteller Masken – was das Ritualhafte dieses Prozesses betont, dessen Urteil von vornherein feststeht.
Im Laufe des Filmes gewinnt das surreale Element immer mehr die Oberhand; De Tounens steigert sich in Visionen eines imaginären Königreichs der Träume hinein. Für diesen französischen Wiedergänger von Don Quixote wird Patagonien zum unerreichbaren Sehnsuchtsland.
Filmnegative in Erde vergraben
Um die schwer fassbare Innenwelt seiner Hauptfigur zu bebildern, greift Atallah tief in die Experimentalfilm-Trickkiste. Manche Effekte wirken trashig, erinnern aber zugleich an die Frühzeit des Kinos. So bearbeitete der Regisseur sein analoges Filmmaterial mit Kolorierung und Einkratzungen; einen Teil davon vergrub er sogar für einige Zeit in der Erde, damit es möglichst stark gealtert erscheint – ähnlich fabriziert der kanadische Filmemacher Guy Maddin seine Fake-Stummfilme.
Die korrodierten Negative schaffen psychedelisch anmutende Bilder, die im letzten Drittel zu einer halluzinatorischen Sequenz geschnitten werden Was immer man von der Hauptfigur halten mag: Angesichts der ansonsten allgegenwärtigen Hochglanzbilder und geläufigen Erzähl-Formeln fällt „Rey“ völlig aus dem Rahmen – ein Film über das andere Ende der, und dabei nicht ganz von dieser Welt.