Ein 90-jähriger Blumenzüchter, der zum Drogenkurier wird: Was sich wie eine bizarre Anekdote anhört, ist tatsächlich eine wahre Geschichte, die sich vor einigen Jahren in den USA zugetragen hat. Sie dient nun als Stoff für den neuen Film von Clint Eastwood; dabei führt die 88-jährige Kino-Legende nicht nur Regie, sondern tritt auch – vielleicht zum letzten Mal – vor die Kamera.
Info
The Mule
Regie: Clint Eastwood,
116 Min., USA 2018;
mit: Clint Eastwood, Bradley Cooper, Alison Eastwood, Andy Garcia
Hochzeit der Tochter schwänzen
Das Drehbuch von Nick Schenk, der bereits das Skript für Eastwoods Film „Gran Torino“ (2008) lieferte, verschwendet keine Zeit: In wenigen Szenen lernen wir Earl Stone (Eastwood) kennen, der erfolgreich Lilien züchtet, aber darüber seine Familie vernachlässigt. Zur Hochzeit seiner Tochter Iris (Alison Eastwood) erscheint er nicht, was seine Ex-Frau Mary (Dianne Wiest) nicht überrascht.
Offizieller Filmtrailer
Vier Zentner Koks nach Chicago
Jahre später steht die Heirat der Enkelin Ginny vor der Tür; mittlerweile hat Stone zum Rest seiner Familie keinen Kontakt mehr, auch sein Blumenhandel geht den Bach runter. Für ihn hat ein Gast bei der Verlobungsfeier jedoch einen Tipp: Er kenne Leute, die stets Fahrer suchen. Schnitt: In der nächsten Szene fährt Stone in eine Garage in El Paso, Texas, und bekommt die erste Tasche in den Kofferraum gelegt.
Fortan ist er Drogenkurier für ein mexikanisches Kartell. Dessen Boss Laton (Andy Garcia) weiß das hochbetagte „Maultier“ („Mule“) zu schätzen und gibt ihm immer größere Fuhren mit: Bald transportiert Stone 200 Kilo Kokain von Texas nach Chicago, was unweigerlich das FBI auf ihn aufmerksam macht. Vor allem der ambitionierte Agent Bates (Bradley Cooper) ist Stone bald auf der Fährte.
Minimalistische Ambivalenzen
Im überwiegend liberalen Hollywood-Establishment wurde die erneute Zusammenarbeit von Eastwood und Schenk skeptisch betrachtet: Man befürchtete, dass der konservative Eastwood, der stets die Republikaner unterstützt – auch wenn er sich bei Trump betont zurückhält – erneut einen aus der Zeit gefallenen Charakter spielen würde, der sich gegen notwendige gesellschaftliche Entwicklungen stemmt.
Doch obwohl dieser Earl Stone beiläufig rassistische Bemerkungen fallen lässt oder Begriffe wie „Negro“ benutzt: Man täte Eastwood unrecht, wenn man seinen Film und dessen Hauptfigur nicht differenziert betrachten würde. Wie kaum ein anderer Kino-Akteur versteht er es, Ambivalenzen extrem minimalistisch auszudrücken. Nie sind seine Figuren eindeutig moralischen Kategorien wie „gut“ und „böse“ zuzuordnen – auch Earl Stone nicht.
Abgehängte Trump-Wähler im heartland
Ohne ihn zu verklären oder zu entschuldigen, zeigt Eastwood diesen Mann als Produkt der heutigen Vereinigten Staaten. Er wurde von der gesellschaftlichen Dynamik abgehängt, vom kapitalistischen Wirtschaftssystem vergessen; in der Gegenwart seines Landes scheint er keine Rolle mehr zu spielen. Genau solche Leute wählten im so genannten heartland der USA vorwiegend Trump; viele von ihnen haben ihr Leben lang gearbeitet, stehen aber im Alter ohne Absicherung da.
Hintergrund
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Dem amerikanischen Traum folgen
Der Film charakterisiert Stone als einen Mann, der unentwegt dem amerikanischen Traum folgte, sich selbst zu verwirklichen und erfolgreich zu sein: Seine Arbeit war ihm stets wichtiger als seine Familie. Nun ändert sich das: Spät, aber nicht zu spät, kümmert sich mehr um seine Angehörigen. Dieser Sinneswandel wird zwar etwas schlicht erzählt, aber dennoch überzeugend: dank Eastwoods beiläufiger Regie und seines reduziertes Schauspiels.
Mit wenigen Regungen seines zerfurchten Gesichts deutet er die Unmöglichkeit an, in kurzen Momenten jahrelang Versäumtes wieder gut zu machen. Dass Eastwood die Filmtochter von Stone mit seiner eigenen Tochter Alison besetzt hat, mag man auch als autobiographischen Verweis verstehen. Der Kino-Star überließ seine zahlreichen Frauen und Kinder meist sich selbst – finanziell gut ausgestattet, doch ohne die Nähe eines Vaters oder Ehemannes, der seit mehr als 60 Jahren fast pausenlos Filme dreht.
Selbstkritik eines Stoikers
Ein Leben im goldenen Käfig von Hollywood sieht natürlich anders aus als das einer Durchschnittsexistenz im Mittleren Westen; das weiß auch Eastwood. Doch man darf dem Stoiker durchaus eine gewisse Reflexion über das Thema unterstellen.
Sein Gespür für Doppeldeutiges und Zwischentöne ließen seine Filme immer wesentlich komplexer werden, als sie auf den ersten Blick wirkten. Das gilt auch für „The Mule“: In dieser scheinbar geradlinigen Verfilmung einer bizarren Anekdote steckt auf den zweiten viel mehr.