Icíar Bollaín

Yuli

Der erwachsene Carlos (Carlos Acosta) tanzt in der Ruine der "Escuelas de Arte Moderna" in La Havanna. Foto: © Piffl Medien
(Kinostart: 17.1.) Wunderkind wider Willen wird Weltstar: Der Kubaner Carlos Acosta ist einer der besten Tänzer unserer Zeit. Seine glänzende Laufbahn verknüpft Regisseurin Bollaín virtuos mit den Widersprüchen seiner Herkunft aus den Favelas von La Havanna.

Ein künftiger Weltstar, der keiner sein will: Mit Ballett hat der zehnjährige Carlos (Edilson Manuel Olbera Núñez) nichts am Hut. Das sei doch nur etwas für Schwuchteln, meint er – viel lieber würde Carlos ein Fußball-Ass wie Pélé werden. Doch sein Vater Pedro (Santiago Alfonso) möchte das Tanz-Talent seines Jüngsten nicht vergeuden: Wenn er schon „mit dem Arsch wackeln“ wolle, dann bitte nicht zu Breakdance-Beats mit Favela-Kids aus der Nachbarschaft, sondern auf der Nationalen Ballettschule in La Havanna.

 

Info

 

Yuli

 

Regie: Icíar Bollaín,

115 Min., Kuba/ Spanien/ Großbritannien 2018;

mit: Carlos Acosta, Edilson Manuel Olbera Núñez, Santiago Alfonso

 

Website zum Film

 

Dorthin muss er seinen jüngsten Sohn fast prügeln: Carlos sträubt sich, widersetzt sich seiner Lehrerin (Laura de la Uz), die seine Ausnahme-Begabung erkennt, und büxt bei jeder Gelegenheit aus. Vergeblich versucht sein Vater, ihn mit Gürtelriemen-Hieben zu disziplinieren. Schließlich wird Carlos auf ein Ballett-Internat in der Provinz geschickt. Dort leidet er fern von seiner Familie unter Einsamkeit  – sieht aber auch zum ersten Mal einen virtuosen Solotänzer. Dem eifert er fortan nach.

 

Kubas kunstsinniger Underdog-Mix

 

„Yuli“ ist ein etwas anderes Tänzer-Biopic. Sein Held erscheint – anders als etwa im Kassenschlager „Billy Elliot“ (2000) von Stephen Daldry – nicht als seiner selbst gewisses Wunderkind, das sich gegen Widerstände durchsetzen muss, sondern umgekehrt: Carlos‘ gesamtes Umfeld fördert ihn nach Kräften, doch ihn selbst kümmert das anfangs wenig. Zudem wächst er weder in einem kunstsinnigen Milieu noch im Prekariat auf, sondern in einer einzigartigen Mischung aus beidem: auf Kuba.

Offizieller Filmtrailer


 

Wohl und Wehe des Sozialismus

 

Das interessierte die spanische Regisseurin Icíar Bollaín mit ihrem Drehbuchautoren und Partner Paul Laverty an der Laufbahn des Weltklasse-Tänzers Carlos Acosta. Bereits 2010 fasste das Duo in „Und dann der Regen – También la Lluvia“ die lateinamerikanische Gemengelage aus kolonialer Ausbeutung und heutiger Diskriminierung in eine so komplexe wie luzide Fabel. Dagegen geriet „El Olivo“ 2016 eher schlicht: Ein alter Olivenbaum stand als ökologisch korrektes Feelgood-Emblem für Spaniens Ausverkauf oder Selbstbestimmung.

 

Laverty liefert seit 1996 Skripte für die Filme des britischen Regie-Altmeisters Ken Loach, dessen Gesamtwerk die Höhen und Tiefen der Arbeiterklasse und ihrer -bewegung nachzeichnet: mal schematisch sentimental wie in „Jimmy’s Hall“ (2014), mal mitreißend authentisch wie in „I, Daniel Blake“, 2016 mit der Goldenen Palme prämiert. Dazu wirkt „Yuli“ fast wie eine Fortsetzung: Das Dasein auf der Karibikinsel veranschaulicht drastisch Wohl und Wehe des Sozialismus.

 

Nach Yoruba-Kriegsgott benannt

 

Gleich zu Beginn besichtigt der Film mit dem kleinen Carlos die Ruine der „Escuelas de Arte Moderna“. Ab 1961 ließ Fidel Castro im Grünen eine Kunsthochschule für fünf Disziplinen errichten, doch nach wenigen Jahren stoppte ein sowjetisches Veto das Projekt. Seither verfällt der avantgardistische Kuppelbau-Komplex; seit seiner Rückkehr nach Kuba 2016 plant Carlos Acosta, dessen Ballettschule wieder aufzubauen – bislang ohne Erfolg.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "El Olivo - Der Olivenbaum" - ökologisches Feelgood Road Movie von Icíar Bollaín

 

und hier eine Besprechung des Films "Und dann der Regen – También la Lluvia" – Drama über postkoloniale Konflikte zwischen Spaniern + Indios von Icíar Bollaín

 

und hier ein Beitrag über den Film "Feuer bewahren - nicht Asche anbeten" - Tanz-Doku über den Choreographen Martin Schläpfer von Annette von Wangenheim

 

und hier eine Kritik des Films "Hasta la Vista, Sister!" - romantische Kuba-Komödie von John Roberts mit Carlos Acosta

 

und hier einen Bericht über den Film "Wüstentänzer" - intensives Drama um eine geheime Tanzgruppe im Iran von Richard Raymond.

 

Dass er in seiner Heimat überall Widerständen und -sprüchen begegnet, verschweigen Bollaín und Laverty nicht. Die Acostas stammen von Plantagen-Sklaven ab. Vater Pedro praktiziert die afro-synkretistische Santería-Religion; er hat seinen Sohn „Yuli“ nach einem Kriegsgott der afrikanischen Yoruba benannt.

 

Gratis-Schule in Zwei-Klassen-Regime

 

Als Beschwörung von Macht und Stärke: Für den LKW-Fahrer Pedro ist die glänzende Karriere seines Sprösslings, die er nur in Zeitungsartikeln verfolgen kann, auch ein symbolischer Sieg über die Jahrhunderte lange Unterdrückung von Schwarzen. Vor allem, als Carlos zum ersten schwarzen Romeo der Ballettgeschichte aufsteigt; doch für ihn selbst ist die Erwartungshaltung seines Vaters eine schwere Last.

 

Allein auf Kuba kann ein armer Junge gratis eine Top-Schule besuchen. Zugleich herrscht auf der Insel ein rigides Zwei-Klassen-Regime: Bei Premieren des Nationalballetts werden nur Dollar-Touristen eingelassen, Carlos‘ mittellose Freunde dagegen abgewiesen. Kein Wunder, dass viele von ihnen ihr Heil auf wackligen Flößen Richtung Key West versuchen.

 

Viel mehr als ein Tanzfilm

 

Bleiben oder weggehen? Die allkubanische Gretchenfrage bewegt auch Carlos nach seiner Ausbildung. Bestärkt und unterstützt von seiner Lehrerin, geht er: nach Lausanne, London oder Houston, wo er Beifall und Preise einheimst. Doch stets droht ihm, dass engstirnige Funktionäre die Rückreise verweigern. Solche Schlüsselmomente seiner Laufbahn setzt der Film in zehn eindrucksvoll originelle Choreographien um – in denen der heute 45-jährige Acosta manche Rollen, etwa die seines eigenwillig-strengen Vaters, selbst übernimmt.

 

Diese formvollendete Verschränkung von Biographie, Gesellschaftspanorama und Bühnen-Höhepunkten macht „Yuli“ zu einem außergewöhnlichen Tanzfilm – gerade weil er viel mehr ist als nur das: Im Mittelpunkt stehen weder Tanz noch Tänzer, sondern die Entwicklung einer Persönlichkeit unter widrigen Umständen.