Amerika als unbekannter Kontinent: Während Literatur, populäre Musik und Filme aus den USA seit mehr als 100 Jahren den globalen Geschmack beherrschen, wurde ihre bildende Kunst lange wenig beachtet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg stiegen die Vereinigten Staaten mit Abstraktem Expressionismus, Hard Edge, Pop Art, Minimalismus etc. auch in der Kunst zum Trendsetter auf. Mit New York als bis heute unangefochtenem Zentrum, in dem Großgaleristen wie Larry Gagosian oder David Zwirner den Kunstbetrieb steuern: If you can make it there, you can make it everywhere!
Info
Es war einmal in Amerika: 300 Jahre US-amerikanische Kunst
23.11.2018 - 24.03.2019
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
im Wallraf-Richartz-Museum, Obenmarspforten, Köln
Katalog 39,90 €
Kunst für nation building
Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens war ein Großteil der US-amerikanischen Kunst allein für den internen Gebrauch bestimmt. Angefangen von Porträts, die ab dem 17. Jahrhundert entstanden, über im 19. Jahrhundert geschätzte Stillleben bis zu monumentalen Landschaftsbildern; sie dienten der Identifikation mit noch unerschlossene Weiten und der Expansion dorthin, also dem nation building.
Impressionen der Ausstellung
Amerikanische Kunst in Paris finden
Zweitens war die Einwanderernation in Sachen Kunst lange ein Entwicklungsland: ohne eigenen Kunstmarkt, Akademien und Museen. Künstler produzierten meist für lokale Abnehmer. Die erste Kunstschule samt Museum wurde 1805 in Philadelphia gegründet; 1825 zog New York nach. Dennoch blieb der europäische Einfluss bis Ende des 19. Jahrhunderts übermächtig: Amerikanische Neureiche importierten mit Vorliebe Kunstwerke aus der Alten Welt – als prestigeträchtige Statussymbole.
Zudem überquerten etliche US-Künstler für ihre Ausbildung den Atlantik; viele kehrten nie zurück, weil ihre Absatzchancen in Europa besser waren. So stellte der Schriftsteller Henry James noch 1887 fest: „Wenn wir heute nach ‚amerikanischer Kunst‘ suchen, so finden wir sie vor allem in Paris.“ Heutzutage gilt eher das Gegenteil: Amerikanische Kunst vor 1945 findet man fast ausschließlich in US-Museen und -Sammlungen.
Erster Profi-Künstler 1729 in Boston
Umso verdienstvoller ist das Bemühen, den transatlantischen Graben zu überbrücken: Das Wallraf-Richartz-Museum stellt die Geschichte von Kunst aus den Vereinigten Staaten in ihrer ganzen Breite und Fülle erstmals hierzulande vor. 300 Jahre in rund 130 Exponaten – da können auf jede Epoche und Tendenz nur wenige Beispiele entfallen. Doch sie ergeben durch kluge Werkauswahl und Kommentierung einen souveränen Überblick; dazu liefert der exzellente Katalog alle Detailinformationen, die man sich wünschen kann.
Bereits die ersten Siedler in Neuengland ließen sich von Amateurkünstlern malen. Der erste Profi, der sich 1729 dort niederließ, war der Brite John Smibert: Mit mitgebrachten Lehrmitteln bildete er in Boston heimische Künstler fort. Sechs Jahre später schuf der schwedische Kunstler Gustavus Hesselius in Philadelphia ein Bildnis des Lenape-Häuptlings Lapowinsa. Samt blauem Umhang, blankem Oberkörper und unendlich müdem Blick – als ahnte er, was seinem Volk bevorsteht.
Naturwunder auf Porzellangeschirr
Ende des 18. Jahrhunderts wurden die US-Künstler Benjamin West und John Singleton Copley in der angelsächsischen Welt als Historienmaler berühmt – allerdings erst, nachdem sie nach London umgezogen waren. Mit wild bewegten Darstellungen wie Copleys „Watson und der Hai“ (1778): Das Opfer treibt nackt und hilflos im Wasser, der Riesenfisch hat ihm den rechten Unterschenkel abgerissen, während im Ruderboot ein Retter zum tödlichen Harpunenstoß ausholt. Subtilere Dramatik bot John Vanderlyn: Seine lebensgroße „Schlafende Ariadne auf Naxos“ ist nackt. Was 1815 zum Eklat führte; dieser klassische Akt war sittenstrengen Puritanern zuwider.
Unumstrittene Sujets wählten Gilbert Stuart mit dem Konterfei von George Washington und John Trumbull mit der Gründerväter-Versammlung zur „Unabhängigkeitserklärung, 4. Juli 1776“: Ihre kanonischen Bilder zieren jedes Handbuch zur US-Geschichte. Eine genuin amerikanische Kunstströmung entstand ab 1820 mit der „Hudson River School“: Deren Vertreter hielten in patriotischem Geist die Naturwunder und -schönheiten des Kontinents fest. Manche Motive waren so gefragt, dass man sie sogar auf Porzellangeschirr reproduzierte.
Geldscheine als Trompe-l’Œuil-Bild
Zum Vater der US-Landschaftsmalerei wurde Thomas Cole: Er zeigte etwa 1826 den Pionier Daniel Boone vor seiner Hütte am Great Osage Lake – die winzige Staffagefigur steigerte den Eindruck erhabener Wildnis. Wie an der europäischen Romantik geschult wirken Gemälde der so genannten Luministen, beispielsweise „Morgen am Hudson River“ (1866) von Sanford Robinson Gifford: Die Leinwand füllt eine glatte Wasserfläche, auf der sich das Himmelslicht in zartesten Tönen spiegelt.
Vorreiter des Realismus waren ab Mitte des 19. Jahrhunderts Winsley Homer und Thomas Eakins; letzterer machte Sportler wie Ringer und Ruderer bildwürdig. Zugleich wurde durch Künstler wie William Michael Harnett und John Haberle die so genannte Trompe-l’Œuil-Malerei populär. Haberle spezialisierte sich auf Kleinigkeiten wie Eintrittskarten oder Geldscheine, die er so fotorealistisch wiedergab, dass sie echt wirkten – daher wurde das Abmalen von Banknoten sogar verboten.
Zehnfacher Kunstimport in zehn Jahren
Ein herausragender Einzelgänger war James Abbott McNeill Whistler. Als 21-Jähriger ging er 1855 nach Paris und lebte fortan bis zu seinem Tod 1903 in Europa. Mit elitärem Selbstverständnis kultivierte er eine flächige Malweise in fahlen Farbtönen nahe der Abstraktion. Quasi als monochromer Antipode des aufkommenden Impressionismus: Dessen prominenteste US-Vertreterin war Mary Cassatt, die ab 1874 ebenfalls in Frankreich lebte. Ihr Kinderbild „Sara mit dunklem Häubchen“ (1901) in der Ausstellung ist ein eher schwächeres Werk von ihr; es hat aber den Vorzug, zur Kollektion des Museums zu gehören.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Marsden Hartley: Die deutschen Bilder 1913-1915" über Proto-Pop-Art des US-Malers in der Neuen Nationalgalerie, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Florine Stettheimer" - erste deutsche Werkschau der exzentrischen New Yorker Amateur-Künstlerin + Mäzenin im Lenbachhaus, München
und hier eine Kritik des Films "Shirley – Visionen der Realität" über den "Maler Edward Hopper in 13 Bildern" von Gustav Deutsch
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Pacific Standard Time" - große Überblicksschau über Kunst in Kalifornien 1950 bis 1980 im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "James Turrell" - Retrospektive des US-amerikanischen Lichtkünstlers im Museum Frieda Burda, Baden-Baden.
Ascheimer-Schule + Präzisionismus
Diese Bewegung fand Ausdruck in der „Ashcan (Ascheimer) School“: Künstler stellten einfache Leute und alltägliche Themen in naturalistischer Manier dar. George Bellows malte Zirkus-Arenen und Boxkämpfe, John Sloan das bunte Treiben einer „Wahlnacht“ (1907), als sei es ein Karneval. Für die modernen Avantgarden ab 1910 begeisterten sich US-Künstler wie Marsden Hartley, der in Berlin eigenwillige Kompositionen zwischen Indianer-Folklore, Abstraktion und Proto-Pop-Art schuf.
Parallel zu Strömungen wie „Neuer Sachlichkeit“ und „Magischem Realismus“ kam in den USA der 1920er Jahre der „Präzisionismus“ auf. Charles Demuth oder George Ault stellten geometrisch klare, menschenleere Industrieanlagen dar. Derlei verbanden Joseph Stella oder die notorisch überschätzte Selbstvermarktungs-Künstlerin Georgia O’Keefe mit surrealen oder fantastischen Anklängen. Irgendwo dazwischen, aber kaum einzuordnen, steht das erratische Werk von Edward Hopper: gewöhnliche Gebäude und Szenen mit vieldeutigem Dreh.
Ohne Englisch kein Künstler
In den 1930er Jahren der Großen Depression wandten sich manche Künstler der Farmer-Lebenswelt zu. Zugleich begannen Schwarze und andere Minderheiten, eigene Bildprogramme zu entwickeln. Dann kam der große Umbruch: Zur Amerikanisierung Europas in der Nachkriegszeit gehörte auch der Siegeszug von US-Galionsfiguren wie Jackson Pollock, Mark Rothko, Barnett Newman et tutti quanti. Seither gilt: US-Kunst ist Weltkunst und umgekehrt. Folgerichtig dekretierte der serbokroatische Künstler Mladen Stilinović schon 1994: „An Artist Who Cannot Speak English Is No Artist.“