Jia Zhangke gilt als der wichtigste zeitgenössische Filmemacher Chinas nach Zhang Yimou. Auf der Berlinale wurde Zhangs jüngster Film „One Second“, der zur Zeit der Kulturrevolution spielt, kurzfristig aus dem Wettbewerb zurückgezogen – nach Angaben der Festivalleitung aufgrund von Problemen in der Postproduktion. Dagegen läuft Jias neuer Film ohne großen Skandal in den deutschen Kinos an.
Info
Asche ist reines Weiß
Regie: Jia Zhangke,
135 Min., China/ Frankreich 2018;
mit: Zhao Tao, Liao Fan
Parallelwelten des Jianghu
Diesmal blickt Jia durch die Brille einer alten Erzähltradition auf das China von heute: Die Gangster- und Liebesgeschichte im Zentrum des Films beruht auf „Jianghu“, wörtlich: „Flüsse und Seen“. Ursprünglich war Jianghu ein Begriff für nach eigenen Regeln lebende Eremiten; nach und nach wandelte er sich in eine Bezeichnung für Parallelwelten außerhalb der üblichen Gesetze – besonders für den in ihnen herrschenden Ehrenkodex und zahlreiche Legenden, die sich darum ranken. Im Jianghu gelten die Werte der Ritterlichkeit und Loyalität, aber auch das Prinzip der Vergeltung.
Offizieller Filmtrailer
Verbrechen zieht Verbrechen an
„Asche ist reines Weiß“ spielt in der Unterwelt rund um eine Mafia-Gang. Die Protagonistin Qiao (Zhao Tao) ist mit Bin (Liao Fan) liiert, dem lokalen Boss in der Stadt Datong im Norden Chinas. Bin macht in Glücksspiel, Schutzgeld und Immobilien, während die Kohleindustrie in der Region vor die Hunde geht und ihre Arbeiter zu Tausenden umgesiedelt werden.
Im Detail werden seine Geschäftsfelder gar nicht aufgeschlüsselt, klar ist nur: Verbrechen zieht unweigerlich weiteres Verbrechen an. So wird Bin von einer Bande aufstrebender Kleinganoven fast zu Tode geprügelt. Qiao schreitet in letzter Sekunde ein, riskiert dabei ihr Leben und landet im Gefängnis.
Aus Loyalität fünf Jahre in Haft
Sie deckt Bin, sitzt aus ungebrochener Loyalität an seiner Stelle fünf Jahre in einer Haftanstalt ab und will den Glauben an eine gemeinsame Zukunft nicht aufgeben. Aber draußen ändern sich die Verhältnisse, und mit ihnen die Menschen. Als Qiao sich nach ihrer Entlassung auf die Suche nach ihrem Geliebten macht und dafür quer durch das Land reist, muss sie erkennen, dass Bin nicht nur ihre Beziehung aufgegeben hat, sondern im Grunde auch sich selbst.
Die Handlung spannt einen Bogen von der Jahrtausendwende bis in die Gegenwart. Der Plot wird durch Zeitsprünge in fünf größere Abschnitte gegliedert, die immer wieder neu und unerwartet ansetzen; Kameramann Éric Gautier fängt sie mit fünf verschiedenen Kameras und Bildqualitäten ein.
Sich lange + konsequent nicht anschauen
Regisseur Jia nimmt sich wie gewohnt Zeit. Seine Erzählung ist zwar linear, trotzdem mäandert sie auf anregende Art und Weise, schweift ab, wird teils collagenhaft, und bleibt dabei immer durchlässig für die großen, im Hintergrund wirkenden Mächte. Dabei wirken die Kulissen oft sprechender als die Dialoge, die Wendungen aus dem Repertoire des Gangster-Slang und der (Nicht-)Kommunikation einer Paarbeziehung abrufen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "A Touch of Sin" – schonungsloses Sozialdrama über Ausbeutung + Gewalt im heutigen China von Jia Zhangke
und hier eine Besprechung des Films "Feuerwerk am helllichten Tage – Black Coal, Thin Ice" - brillanter Neo-Noir-Krimi in Nordchina von Diao Yinan, Berlinale-Sieger 2014
und hier einen Bericht über den Film "Venezianische Freundschaft" - einfühlsam-malerisches sino-italienisches Einwanderer-Drama von Andrea Segre mit Zhao Tao
und hier einen Beitrag über den Film "A Touch of Zen" - legendärer Kampfkunst-Klassiker (1971) aus Taiwan von King Hu.
Alle sind Gefangene des Universums
In einer weiteren zentralen Szene in einem Hotelzimmer wird die Auflösung emotionaler Bindungen zum Zeitlupenballett. Der Regisseur arbeitet hier wie ein Choreograf, der seine Schauspieler wohlüberlegt auf dem Schachbrett der vergehenden Liebe positioniert – ein konstantes Sich-Verschieben und Neu-Austarieren der Beziehungsverhältnisse von Qiao und Bin, in dem es am Ende keine Sieger gibt.
„Asche ist reines Weiß“ ist ein Film, der zugleich lähmt und aufrüttelt; der betroffen macht und sein Publikum immer wieder verblüfft. Irgendwann taucht in Qiaos größter Einsamkeit am Nachthimmel plötzlich ein UFO auf. Gleißendes Licht im Dunkel – und doch kein Ausweg. Eine Zufallsbekanntschaft hatte Qiao kurz vorher erklärt: „Wir sind alle Gefangene des Universums.“