„Im Kino gewesen. Geweint.“, notierte Franz Kafka am 23. Oktober 1921 in sein Tagebuch; vermutlich hatte er den Film „Rückkehr nach Zion“ über Palästina gesehen. Der lapidare Eintrag verrät viel über die Rolle des Kinos in der Weimarer Republik: Es war der Erlebnis- und Gefühls-Generator schlechthin. Die Bedeutung des jungen Massenmediums explodierte geradezu: Zwischen 1919 und 1928 verdoppelte sich beinahe die Zahl der Lichtspielhäuser auf rund 5000. Sie wurden pro Jahr mehr als 350 Millionen Mal besucht. Zum Vergleich: Knapp 1700 bundesdeutsche Kinos verkaufen jährlich rund 100 Millionen Eintrittskarten.
Info
Kino der Moderne:
Film in der Weimarer Republik
14.12.2018 - 24.3.2019
täglich außer montags
10 bis 19 Uhr, dienstags + mittwochs bis 21 Uhr
in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Friedrich-Ebert-Allee 4, Bonn
Katalog 29 €
20.6.2019 - 13.10.2019
täglich außer dienstags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 21 Uhr
in der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Potsdamer Str. 2, Berlin
Verschüttete Originalfilme
Was jammerschade ist, denn die Weimarer Kinoproduktion enthält ein komplettes Panorama der Epoche – erstmals ließen sich alle Aspekte des Daseins in bewegten Bildern festhalten. Zugleich entwickelte sich Film zum Leitmedium, das sämtliche Themen verhandelte, die die Zeitgenossen beschäftigten. Verblüffend unbefangen und experimentierfreudig; das Schubladen-Denken in Genres und Zielgruppen war noch wenig ausgeprägt.
Autoren wie Siegfried Kracauer, Béla Balázs, Lotte Eisner und Walter Benjamin formulierten die Anfänge von Filmkritik und -theorie; sie verstanden Kino als Kunstform zur Analyse der Gesellschaft. Diese Ansätze hat die Filmwissenschaft ab den 1950er Jahren erschöpfend ausgewalzt. Das Weimarer Kino währte nur 14 Jahre, doch seit mehr als einem halben Jahrhundert bilden Hochschulen Scharen von Filmwissenschaftlern aus, die unentwegt forschen und Aufsätze schreiben müssen; unter ihren Papierbergen sind die Originale längst begraben.
Interview mit Rainer Rother, Direktor der Deutschen Kinemathek + Impressionen der Ausstellung
Kino als Spiegelbild seiner Zeit
Nun werden sie aus der akademischen Asservatenkammer herausgeholt; damit feiern die Bonner Bundeskunsthalle und die Deutsche Kinemathek in Berlin gemeinsam das 100-jährige Jubiläum der Weimarer Republik. Doch beide Partner nennen ihre Schau bewusst: „Kino der Moderne“. Im Mittelpunkt stehen nicht Star-Regisseure oder -Schauspieler, und ebenso wenig das spezifisch Deutsche am Weimarer Kino, obwohl nationale Filmtraditionen noch sehr ausgeprägt waren – sondern seine Modernität: Kino als Spiegelbild der damaligen Gegenwart.
Die komplett einfangen und ausstellen zu wollen, ist ein kühnes Unterfangen. Was glänzend gelingt durch eine kleinteilige Gliederung aus drei Themenbereichen, die in insgesamt 32 Abschnitte unterteilt sind; auf die wurden fast 500 Exponate mit Bedacht verteilt.
Kassenschlager des Klassenkampfs
Der Rundgang verläuft durch einen luftigen Irrgarten aus Baugerüsten und Stellwänden – Kulissenschieberei wie am Set. Wenn sie zu verwirren droht, hilft stets die Rückkehr in den zentralen Lichthof voller historischer Reklametafeln und Filmprojektionen – als stände man in den 1920er Jahren mitten auf dem Potsdamer Platz. Samt Studiokino mit ausgewählten Filmschnipseln.
Ihren Anspruch umfassender Darstellung dieser Ära lösen die Kuratoren ein: Es geht los mit Kindheit, Arbeitswelt und sozialer Frage. „Proletarische Filme“ wie „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ (1929) von Phil Jutzi oder „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ (1932) von Slatan Dudow prangerten das Elend der Unterschicht an, holten den Klassenkampf auf die Leinwand – und hatten an der Kinokasse Erfolg.
Höchste Telefondichte weltweit
Durch geläufige Bubikopf-Klischees vertrauter wirken die Abschnitte zu Mode, Mobilität und Sport in der Weimarer Zeit. Sie stecken aber voller überraschender Details. So gab es um 1930 bereits 500.000 Autos und 800.000 Motorräder im Deutschen Reich; jährlich wurden drei Millionen Fahrräder hergestellt. Berlin hatte mit fast einer halben Million Fernsprecher die höchste Anschlussdichte der Welt – versteht sich, dass Krimis durch hektische Telefonate und wilde Verfolgungsjagden entschieden wurden.
Auch Leibesübungen brachten die Republik in Bewegung: Nach Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstags blieb dafür mehr Freizeit. Fußball, Radrennen und Boxen waren sehr populär; Max Schmeling feierte ebenso auf der Leinwand Triumphe wie im Ring. Schon damals gönnten sich feine Leute private Fitnessräume, was sofort im Kino karikiert wurde; schon damals ging es um körperliche Selbstoptimierung, wie der Titel des Gymnastikfilms „Wege zu Kraft und Schönheit“ (1925) von Wilhelm Prager klarstellt.
Leni Riefenstahls Bergfilm-Debüt
Und das exklusive Vergnügen des Skilaufs lichtete ein eigenes Genre ab: der Bergfilm. Dessen Pionier war Arnold Fanck, etwa mit „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ (1929), der seine Kamera auch mal direkt auf den Skiern montierte. Seine gelehrige Schülerin wurde eine gewisse Leni Riefenstahl mit ihrem Debüt „Das blaue Licht“ (1932).
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Glanz und Elend in der Weimarer Republik" - umfassender Epochen-Überblick in der Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main
und hier eine Besprechung des Films "Von Caligari zu Hitler – Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen" – gelungener Essayfilm über die Stummfilm-Ära der Weimarer Republik von Rüdiger Suchsland
und hier eine Kritik der Ausstellung "Friedrich Wilhelm Murnau – Eine Hommage" für den Regisseur von "Nosferatu" (1922) +"Tabu" (1931) im Lenbachhaus, München
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Die Ufa – Geschichte einer Marke" zum 100-jährigen Bestehen des Film-Konzerns in Berlin + München.
Seelenschau mit Freud-Mitarbeitern
Geschlechterrollen spielten eine wichtige Rolle; Cross-Dresser und Transvestiten bevölkerten Komödien. Bis Anfang 1920 gab es keine Zensur, so dass Richard Oswald 1919 in „Anders als die Andern“ erstmals offen Homosexualität ansprechen konnte. Zwölf Jahre später behandelte „Mädchen in Uniform“ von Leontine Sagan lesbische Liebe im Internat.
Enormes Interesse fand die Psychoanalyse – kein Wunder: Die Gesellschaft war durch den Ersten Weltkrieg traumatisiert, Millionen von Invaliden litten an Spätschäden. Für Alpträume und Wahnvorstellungen entwickelten expressionistische Filme eine Bildsprache aus Überblendungen und Verzerrungen, die bis heute im Weltkino verwendet wird. Bei „Geheimnisse einer Seele“ (1926) über das Verhältnis von Patient und Therapeut wurde Regisseur G.W. Pabst durch zwei enge Mitarbeiter von Sigmund Freud beraten.
Illusionsmaschine Großausstellung
Wie haben die damaligen Studios das gemacht? Dazu hat die Schau eine Art Produktionswerkstatt eingerichtet, deren Kabinette jeweils einen Schritt der Filmherstellung präsentieren. Prunkstück ist ein Modell der unglaublich aufwändigen Kulissen für „Asphalt“ (1929) von Joe May. In Babelsberg wurde auf 6000 Quadratmetern eine verkehrsreiche Straßenkreuzung nachgebaut; dies erlaubte besonders lange Kamerafahrten.
Ähnlich großzügig arrangiert die Bundeskunsthalle ihre Materialfülle: Die Illusionsmaschine Kino verwandelt sie kongenial in die Illusionsmaschine Großausstellung. Die Grandezza dieser Inszenierung wird sich bei der zweiten Station in Berlin nicht durchhalten lassen; dafür ist das mehrgeschossige Museum für Film und Fernsehen zu verwinkelt. Dennoch lohnt auch hier der Besuch: Lückenloser kann man das gesamte Spektrum des Weimarer Filmschaffens kaum erleben, bevor es nach dem Jubiläumsjahr wieder im Archiv verschwinden wird.