Berlin

Max Ernst – Zeichendieb

Max Ernst: Schild für eine Piratenschule (Detail), Fotolithografie, um 1965; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018
Traum vom Land am Nil: Der deutsche Surrealist schmückte seine Werke oft mit Elementen, die wie Hieroglyphen oder Relikte aus dem alten Ägypten wirken – obwohl er nie dort war. Seine Form-Anleihen breitet die Sammlung Scharf-Gerstenberg hübsch versponnen aus.

Im alten Marstall, gegenüber vom Schloss Charlottenburg, steht ein mit Hieroglyphen geschmücktes Tor aus Ägypten, das da eigentlich nicht hingehört. Vor vier Jahrzehnten kam das Kalabscha-Tor als Geschenk des damaligen Staatschefs Anwar el-Sadat nach Berlin; künftig einmal soll es ins Pergamonmuseum wandern. Den Kuratoren der Sammlung Scharf-Gerstenberg, die im Marstall untergebracht ist, stand es immer irgendwie im Weg: ein sperriger Fremdkörper inmitten surrealistischer Kunstwerke.

 

Info

 

Max Ernst - Zeichendieb

 

06.12.2018 - 28.04.2019

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

am Wochenende ab 11 Uhr

in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, Berlin

 

Weitere Informationen

 

Jetzt öffnet das Tempeltor den Weg in die Geheimzeichenwelt von Max Ernst (1891-1976) – und darf endlich einmal als Zentralstück fungieren. Die Ausstellung macht sich ein Vergnügen daraus, zahlreiche Fäden zwischen dem quecksilbrigen Künstler und den Bilderschriften Altägyptens zu spinnen. Wollte man da mit streng kunsthistorischer Akribie herangehen, käme wenig Belastbares heraus.

 

Grafik, Amulette, Ölbilder + Papyri

 

Doch liebten nicht schon die ersten Surrealisten den Zufall als Antrieb, um ausgetretene Denkpfade zu verlassen? Hartnäckig und spielerisch verfolgt die Schau ihre Idee; es springt wirklich etwas dabei heraus. Beschwingt gesellen sich Zeichnungen von Max Ernst und ägyptische Amulette, surreale Ölbilder und altersmürbe Papyri zueinander, insgesamt rund 150 Exponate.

Diaschau mit Werken von Max Ernst; © Distant Mirrors


 

Hommage an Amateur-Astronomen

 

Dass der historische Gewölbesaal bei dieser Schau in gruftartige Kabinette gegliedert wird, die an Grabkammern erinnern, passt zur geheimnisvollen Spurensuche und fördert die Betrachtung aus der Nähe. Ohne sie geht nichts: Erst im Detail springt Max Ernsts kreativer Funke und hinterhältig-gewitzter Humor über. „Zeichendieb“ nennt der Ausstellungstitel den Rheinländer; er wilderte in der altägyptischen Kultur, ohne je im Land am Nil gewesen zu sein.

 

Auch sonst stibitzte er aus nahe liegenden und entlegenen Quellen alles, was er brauchen konnte. Der Autodidakt verwischte dabei gern seine Spuren – allerdings nicht im Falle von Ernst Wilhelm Leberecht Tempel (1821-1889), der ihn inspiriert hatte. Dem Amateur-Astronomen widmete Max Ernst eine regelrechte Hommage, gespickt mit einer von ihm selbst erfundenen Pseudo-Hieroglyphenschrift. „Er hatte Genie, aber kein Diplom“, sagt der Künstler über Tempel in einem unkonventionellen Filmporträt, gedreht von Peter Schamoni.

 

Grafikmappe voller Geheimschrift

 

Tempel hatte Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Fernrohr mehrere Kometen, Sternennebel und einen Kleinplaneten namens „Maximiliana“ entdeckt, ohne dass die Fachwelt seine Leistung anerkannte. Das von Max Ernst geschaffene Mappenwerk „Maximiliana oder Die widerrechtliche Ausübung der Astronomie“ bildet jetzt das Gravitationszentrum der Ausstellung: 30 große Doppelseiten, bedeckt mit Gekritzel und halbabstrakten Gestalten.

 

Hier taucht erstmals im Schaffen des Künstlers, der damals schon mehr als 70 Jahre alt war, jene selbst erfundene Geheimschrift auf, die zu entziffern Kenner seines Werks bis heute reizt. Die beweglichen Skripturen laufen so flüssig übers Blatt, als wüsste der Schreiber, wovon er spricht. Seine Zeichen krümmen sich zu Schnörkeln und lassen eine reale Syntax vermuten.

 

Altägyptische Sparringspartner

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Traum-Bilder – Die Wormland-Schenkung" mit Werken des Surrealismus von Max Ernst u.a. in der Pinakothek der Moderne, München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Bewusste Halluzinationen – Der filmische Surrealismus" im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt/Main.

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Schwarze Romantik: Von Goya bis Max Ernst" - gelungene Themen-Schau im Städel Museum, Frankfurt/Main.

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Im Licht von Amarna – 100 Jahre Fund der Nofretete" zur altägyptischen Kultur im Neuen Museum, Berlin.

 

Zugleich geben sie vor, sie seien bewegliche Figuren, recken die Arme – und werden kurz darauf wieder abstrakte Linienknäuel. Die écriture automatique der surrealistischen Dichter lässt grüßen. Diese Hieroglyphenzeilen zu lesen, ist wie geistige Gymnastik; die Ägyptische Sammlung der Staatlichen Museen Berlin steuert dazu passende antike Sparringspartner bei.

 

Ein 5000 Jahre altes Stierkopf-Amulett wissen selbst Fachleute nicht zu deuten. Eine zierliche altägyptische Fischskulptur mit Mond und Stiergeweih tummelt sich, ohne zu fremdeln, zwischen surrealen Mischwesen aus der berühmten Frottagen-Serie „Histoire Naturelle“ von Max Ernst; eine dieser Grafiken nannte er „Im Stall der Sphinx“.

 

Auge der Sphinx unterschlagen

 

Ein holzgeschnitzter Ibis, sonst wegen schlechter Erhaltung ins Depot verbannt, grüßt hinüber zu den Schnabelwesen von Max Ernst. Dessen Vogel-Alter Egos wandeln sich unablässig: Sie sind mal fliegendes Auge, mal Himmelskörper, mal unheimliche „Auserwählte des Bösen“. Genial reduzierte der Künstler sein Lieblingsmotiv schließlich zum Minimalzeichen voller Schwung: Aus einer einzigen Linie geboren steht der Vogel, rund wie ein Ei: „Alles in Einem“ heißt dieses Blatt.

 

Einen glatten Kiesel in Form eines Auges fand sein Freund Roland Penrose auf einer Reise durch Ägypten. Max Ernst lieh ihn sich aus und gab ihn nie zurück: Als „Auge der Sphinx“ schlummert der geheimnisvolle Stein jetzt in einer winzigen Schatulle. Wären diese Rätsel zu lösen, hätten sie keinen Sinn – aber so faszinieren sie bis heute.