Der alte Mann und das Meer: Mit zerfurchtem Gesicht sitzt er auf einer Terrasse und sieht auf die gleißende See. Er zündet sich eine Zigarette an, seine Hand beginnt stark zu zittern – der Rauch im Aschenbecher verweht, die Kamera blendet auf den strahlend blauen Himmel. Mehr braucht der französische Regisseur Robert Guédiguian nicht, um einen Schlaganfall zu zeigen.
Info
Das Haus am Meer
Regie: Robert Guédiguian,
107 Min., Frankreich 2017;
mit: Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan
Spiegel mit nostalgischer Note
Wie seine international sehr viel bekannteren Kollegen Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien sowie der Brite Ken Loach ist Guédiguian, Franzose armenischer Abstammung, ein dezidiert politischer Filmemacher und entschiedener Humanist. Diese klare Haltung verleiht seinem sozial engagierten Kino eine nostalgische Note – trotzdem, oder gerade deshalb, gelingt es ihm hervorragend, der Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten
Offizieller Filmtrailer
In „Das Haus am Meer“ führt der überraschende Schlaganfall des Vaters, der ihn zum Pflegefall macht, seine drei erwachsenen Kinder nach langer Zeit wieder zusammen: in einer kleinen, malerischen Bucht unweit von Marseille, die sich zum Meer hin wie ein Amphitheater öffnet. Von den drei Geschwistern ist nur der hemdsärmelige Armand (Gérard Meylan) da geblieben; er führt das Familienrestaurant weiter.
Keiner wohnt mehr in der Bucht
Sein Bruder Joseph (Jean-Pierre Darroussin), ein scharfzüngiger und desillusionierter Gewerkschafter, ist mit seiner deutlich jüngeren Freundin Bérangère (Anaïs Demoustier) angereist. Als ihre Schwester Angèle (Ariane Ascaride) auftaucht, liegt sofort Spannung im Raum: Die bekannte Schauspielerin ließ sich wegen eines tragischen Verlustes 20 Jahre lang nicht bei ihrer Familie blicken.
Schuldzuweisungen mischen sich mit geschwisterlicher Vertrautheit; über allem steht die Frage, was mit dem elterlichen Erbe geschehen soll. Das vom Vater gebaute Haus steht für eine Vision vom Leben in Gemeinschaft. Doch in der Bucht wohnt niemand mehr – bis auf ein altes Nachbarspaar und einen jungen Fischer. Im Winter sind die meisten Häuser ohnehin verlassen: Ihre Besitzer haben sie entweder verkauft oder vermieten sie lukrativ an Sommergäste.
Ganzes Leben in 107 Minuten
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ich, Daniel Blake" - realistisch-kafkaeskes Drama über die britische Sozial-Bürokratie von Ken Loach, prämiert mit Goldener Palme 2016
und hier eine Besprechung des Films "Der Wein und der Wind"- turbulente Tragikomödie über ein vererbtes Weingut von Cédric Klapisch
und hier einen Bericht über den Film "Das unbekannte Mädchen" - schnörkellos sozialrealistisches Alltags-Drama von Jean-Pierre + Luc Dardenne
und hier einen Beitrag über den Film "Das Haus auf Korsika" - gelungenes Erbinnen-Drama von Pierre Duculot über naturnahes Leben am Mittelmeer.
Liebe, Tod und Trauer, Verlust und Neuanfang, politische Gegensätze, Vergangenheit und Jetztzeit, ökonomische Zwäng und Idealismus, Alteingesessene und Flüchtlinge – eigentlich müsste ein Film mit so vielen Themen völlig überfrachtet sein. Doch Regisseur Guédiguian erzählt davon so warmherzig und leicht, dass es ihm gelingt, die ganze Spannweite des Lebens in 107 Minuten unterzubringen und dabei noch glänzend zu unterhalten.
Nuancierte Zwischentöne
Sein Erfolgsgeheimnis liegt in der Beschränkung: In knapp 40 Jahren hat er 20 Filme gedreht – meist in dem Marseiller Arbeiterviertel, in dem er selbst aufgewachsen ist. Dabei sind seine Stammschauspieler Ascaride, Meylan und Darroussin fast immer mit von der Partie.
Ihre enorme Vertrautheit miteinander merkt man an den sehr nuancierten Zwischentönen in ihrem Spiel. In Guédiguians Geschichten steckt viel Idealismus; kein blinder oder naiver, sondern einer, der trotz aller dunklen Seiten daran glaubt, dass Menschen zur Reflexion und Einsicht des Guten fähig sind.