Sergey Dvortsevoy

Ayka

Ayka (Samal Yeslyamova) schleppt sich von einem Billigjob zum nächsten. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 18.4.) Milchstau im Geflügelschlachthaus: Regisseur Sergey Dvortsevoy schildert den Alltag einer illegal in Moskau lebenden Kirgisin – als ebenso packendes wie klaustrophobisches Duett der Hauptdarstellerin Samal Yeslyamova mit der Kamera.

Die erste Einstellung zeigt vier kleine Menschenpakete; fest in Tücher gewickelte Säuglinge, die auf einem metallisch ratternden Wagen liegen. Wohin werden sie geschoben, in was für ein Leben, in welche Welt? Sie werden aus gekippter Perspektive gefilmt, was nichts Gutes verheißen kann. Und doch bleiben die Bündel am Ende als eines der zärtlichsten Bilder dieses Films in Erinnerung.

 

Info

 

Ayka

 

Regie: Sergey Dvortsevoy,

110 Min., Russland/ Polen/ Kasachstan 2018;

mit: Samal Yeslyamova, Zhipara Abdilaeva, Sergey Mazur

 

Weitere Informationen

 

Von der Geburtsklinik geht es direkt ins Schlachthaus. Ayka (Samal Yeslyamova), eine 25-jährige Kirgisin, lebt mit ungültigen Papieren in Moskau. Sie hat soeben entbunden und kann sich kaum auf den Beinen halten. Trotzdem bricht sie ein Toilettenfenster der Klinik auf und plumpst hinaus in den heftigsten Schneesturm, den die russische Hauptstadt seit Jahrzehnten erlebt hat.

 

Federn rupfen statt stillen

 

Ihr Neugeborenes lässt sie zurück und hetzt zur Arbeit: geschlachtete Hühner rupfen und ausnehmen. Sie braucht dringend Geld, das sie den Leuten schuldet, die sie dauernd mit Anrufen auf ihrem Handy terrorisieren. Der Betreiber der Schlachtbruchbude macht sich jedoch mit einer LKW-Ladung toter Vögel aus dem Staub und prellt die Arbeiterinnen um ihren Lohn.

Offizieller Filmtrailer


 

Hauptsache ein Job!

 

Und so taumelt Akya atemlos weiter, ausgelaugt von der Geburt, mit Blutungen und Milchstau. Bei Unbekannten bettelt sie nach Geld oder irgendeinem Job, egal was. Mit „Ayka“ erzählt der aus Kasachstan stammende Regisseur Sergey Dvortsevoy, mehr als zehn Jahre nach seinem letzten Film „Tulpan“ (2008), von fünf Tagen im Leben einer zentralasiatischen Migrantin in Moskau.

 

Wobei das Verb „erzählen“ fast übertrieben ist. Der Film steht in der Tradition von niederschmetterndem Fatalismus in manchen Klassikern des Neorealismus – man fühlt sich an Luchino Viscontis „Die Erde bebt“ und Vittorio De Sicas „Fahrraddiebe“ (beide 1948) erinnert, oder auch an den brutalen Sozialrealismus der belgischen Dardenne-Brüder im Arbeitswelt-Drama „Rosetta“ (1999).

 

Schonungloser Elendsporno

 

Die Kamera klebt geradezu an der Hauptfigur. Bei ihrem Kampf ums Überleben ist der Zuschauer so nah dran, dass für Drehbuchkonventionen kein Platz bleibt. Eine Mutter hat soeben ihr Kind aufgegeben. Als Zuschauer ist man ständig sehr eng bei ihr, und bleibt doch allein mit dieser schockierenden Entscheidung. Es gibt kein Psychologisieren und keine Frage nach dem Warum. Nur kleine Fingerzeige, die allmählich das Puzzle einer Hintergrundstory ergeben.

 

Manchmal wirkt dieser Film klaustrophobisch; oft ist er schwer auszuhalten. Die Schonungslosigkeit, mit der Dvortsevoy sein Publikum dieser Zeugenschaft aussetzt, hat etwas von einem Elendsporno. In der Dramaturgie gibt es kaum Momente, in denen die Misere etwas weiter weg rückt.

 

Duett von Hauptfigur und Kamerafrau

 

Die Montage wirkt manchmal abrupt, aber setzt kaum Schnitte, die neu ansetzen würden und einen im Kinosessel kurz durchatmen ließen. Man ist versucht, sich mit formalen Aspekten vom verstörenden Inhalt abzulenken. Tatsächlich kann man „Ayka“ als ein 110 Minuten langes Duett der Schauspielerin Samal Yeslyamova mit der Kamerafrau Jolanta Dylewska betrachten.

 

Das Zusammenspiel der beiden ist atemberaubend; Yeslyamova wurde dafür in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet. Die Kamera wirkt wie an die Protagonistin gekettet – eine weitere Fessel, die sie auch in extrem beengten Räumen nicht los wird.

 

Vergebliche Kämpfe

 

Etwa in ihrem Bettverschlag im „Hostel Sonnig“, das nichts anderes ist als eine desolate, überfüllte Unterkunft, in der ein Halsabschneider die Illegalen ausbeutet, bevor er selbst von der korrupten Polizei zur Kasse gebeten wird. Oder in der Abstellkammer beim Tierarzt, wo Ayka vertretungsweise einen Job als Reinigungskraft übernehmen darf. Zwischen Wischmopp und Putzmitteln presst sie sich den quälenden Milchstau aus den Brüsten.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Sanfte (Krotkaya)" - Parabel über Russland als Gefängnis von Sergei Loznitsa

 

und hier eine Besprechung des Films "Nomaden des Himmels" - Porträt kirgisischer Pferdezüchter von Mirlan Abdykalykov

 

und hier einen Bericht über den Film "Der letzte Wolf" - Bestseller-Verfilmung aus der chinesischen Mongolei als Systemkritik im Wolfspelz von Jean-Jacques Annaud

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die Moskauer Prozesse" - Dokumentation über Schauprozesse gegen russische Künstler von Milo Rau.

 

Obwohl die Kamera nicht von Aykas Seite weicht, zeichnet der Film doch das Panorama einer ganzen Gesellschaft. Gehetzt sind sie alle. Unterdrückt, abhängig und gedemütigt vom Nächstoberen. Sie irren durch diese Stadt, auf die der Schnee niedergeht wie eine schicksalshafte Last. Die Armada von Räumfahrzeugen, die im Hintergrund wiederholt zu sehen ist, führt einen vergeblichen Kampf.

 

Eigeninitiative schlägt Rolltreppe

 

Auf der Suche nach Arbeit landet Ayka einmal in einer Agentur, die Seminare von der Art „In sieben Schritten zum Millionär“ anbietet. Ein Referent erklärt, wie er es geschafft hat: mit Eigeninitiative. Alles ist möglich, wenn man nur will und selbst handelt. Man darf nicht warten, bis einen die Rolltreppe bequem nach oben bringt, sagt er: Man muss den harten Weg gehen und jede einzelne Stufe selbst hochsteigen.

 

Seine Schlaumeier-Worte sind das Echo auf eine Szene zu Anfang des Films. Die zeigt den Aufgang aus einem Moskauer U-Bahn-Schacht: drei lange Rolltreppen. Davon führen zwei nach unten und eine nach oben; alle sind überfüllt mit in Mäntel und Pelze eingepackten Menschen.

 

Machtlos gegen Strukturen

 

Die Kamera lässt sich gemeinsam mit der Protagonistin von der Masse auf die Rolltreppe schieben, langsam, fast ohne eigenes Zutun. Eine Treppe zum Selbst-Hochsteigen gibt es nicht. Hier handelt niemand aktiv, alle werden von äußeren Kräften bewegt. Dieses Prinzip überträgt „Ayka“ auf seine Zuschauer. Man wird nolens volens durchgeschleust. Keine schöne Erfahrung – aber ein starker Film.