Jean-Luc Godard

Bildbuch

Szene aus "Bildbuch" von Jean-Luc Godard. Foto: © Grandfilm
(Kinostart: 4.4.) Radikalavantgarde trifft auf Twitter-Erzählstil: Der frühere Nouvelle-Vague-Mitbegründer Jean-Luc Godard bringt mit diesem Essayfilm seine Lebensthemen auf den Punkt und forscht nebenbei nach der Essenz von Bildern.

Eine Frau steht auf einem Stuhl in ihrer Wohnung. Ein Soldat hat sie dorthin gezwungen; er steht kurz davor, sie zu erschießen. An einem Strand spielen Kinder mit Gewehren aus Holz, die Dünen dienen als Schützengräben. Schnitt, dann Schwarzfilm. Eine Stimme spricht: „Jede Repräsentation fügt dem Repräsentierten Gewalt zu.“

 

Info

 

Bildbuch

 

Regie: Jean-Luc Godard,

85 Min., Schweiz 2018

 

Weitere Informationen

 

Dann hebt ein Mann eine Axt, um einen Angeklagten in einem Gerichtssaal unter den Blicken der Geschworenen zu enthaupten. Filmmusik ertönt. Sie wechselt mit jeder Szene, als würde jemand am Radio drehen – und bricht immer wieder ab. Die Brüche und so entstehenden Lücken sind die augenfälligsten Konstanten des Essayfilms „Bildbuch “ von Jean-Luc Godard – im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Archäologische Bildersuche

 

Dem Mitbegründer der französischen „Nouvelle Vague“, quasi der Keimzelle des heutigen Autorenkinos, geht es seit seinem Bruch mit herkömmlichen Spielfilmformaten um Dinge, die unmittelbar ins Auge fallen – nicht um das, was erwartbar wäre oder gefällt. Der Film „Bildbuch“ besteht ausschließlich aus Archiv-Material, das nach Angaben des legendären Regisseurs durch ein quasi archäologisches Suchverfahren gefunden wurde: Es sind Szenen aus etlichen Dokumentar- und Spielfilmen, etwa aus Klassikern wie Pier Paolo Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ von 1975.

Offizieller Filmtrailer


 

YouTube trifft Poesie

 

Darüber hinaus verwendet Godard found footage aus dem Internet, zum Beispiel YouTube-Videos von Terrorakten. Der Filmtitel ist jedoch etwas irreführend. Das einzige, was der Film mit einem Buch gemeinsam hat, ist die Gliederung in sechs Kapitel, die ihm eine gewisse, wenn auch abstrakte, poetische Ordnung verleihen. Sie heißen „Remakes“, „Abende von St. Petersburg“ oder “ Diese wie Blumen in Geleisen/ so traurig arm im irren Wind der Reisen“, angelehnt an einen Vers aus dem Gedicht „Das Buch von der Armut und vom Tode “ (1903) von Rainer Maria Rilke.

 

Konsistent erzählte Geschichten bilden die Kapitel nicht, allenfalls thematische Knotenpunkte. Sie sind zugleich auch die Lebensthemen des Regisseurs; allen voran der Krieg und seine manipulative Darstellung im Kino und den Fernsehnachrichten. In „Bildbuch“ wird das schocktauglich illustriert durch eingangs erwähnte Originalaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg. Oder auch durch die ästhetisierte Atombomben-Explosion im Finale des Film-Noir-Klassikers „Kiss Me Deadly“ (1955).

 

Zerstörte Bilder und Off-Stimme

 

All das wird verschränkt mit refrainartig auftauchenden Bildmotiven wie Händen, Zügen oder Schienen. Es könnten Metaphern sein: die Züge etwa für die Reisen des Lebens, die Schienen für die Vorbestimmtheit des Schicksals. Dass es hier jedoch um die abgebildeten Dinge selbst zu gehen scheint, statt um ihren Verweischarakter, signalisiert die Verfremdung, der die Bilder unterzogen wurden.

 

Godard hat die alten analogen Filme digitalisiert, sie dabei aber nicht restauriert, sondern über- oder unterbelichtet – also regelrecht zerstört. Deshalb ist vieles verschwommen und schwebt am Bewusstsein vorbei, ähnlich wie die Stimme aus dem Off, die dank Multikanal-Technik aus allen Richtungen kommt und von Godard selbst stammt.

 

Keine eindeutigen Antworten

 

Als erklärter Verächter von Untertiteln, die nur den Blick auf das Geschehen rauben würden, hat er den Text eigens auf Deutsch eingesprochen. So abstrakt Godards Bildsprache ist, so markant sind seine Worte: „Wenn du mich fragst, bin ich immer auf der Seite der Bombe“, sagt er an einer Stelle. Später warnt er davor, „die Demokratie an die Idioten an der Macht zu verraten“.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Victoria" - Berlin-Nachtleben-Thriller nach dem Vorbild von Godards "Außer Atem" (1960) von Sebastian Schipper

 

und hier einen Bericht über den Film "Le Rayon vert – Das grüne Leuchten" von Éric Rohmer, einem der führenden Regisseure der französischen Nouvelle Vague 

 

und hier einen Beitrag über den Film "Augenblicke: Gesichter einer Reise" - Dokumentation von Nouvelle-Vague-Regisseurin Agnès Varda und dem Künstler JR

 

und hier eine Besprechung des Films "Overgames" - komplexer Essayfilm über Verbindungen zwischen TV-Spielshows und  Psychiatrie von Lutz Dammbeck.

 

Angesichts all des Leids auf der Erde kommt er zu der wenig hoffnungsvollen Einsicht: „Wir sind nie traurig genug, um die Welt besser werden zu lassen.“ Dieser Film bietet kein Popcorn-Vergnügen, sondern eine Art visuelles Rätsel. Für alle, die vom Kino eindeutige Antworten erwarten, ist „Bildbuch“, der im Wettbewerb von Cannes 2018 mit einem Sonderpreis prämiert wurde, möglicherweise eine Tortur. Für jene, die offenen Fragen gerne stehen lassen, könnte der Film durchaus ein Meisterwerk sein.

 

Mitschuld des Kinos

 

Fraglos ist dieser abstrakte Bildessay etwas, was man von einem 88-Jährigen nicht unbedingt erwarten würde: zeitgenössisch. Die fragmenthafte, nicht aber willkürliche Struktur wirkt wie eine Sammlung von Tweets oder Instagram-Posts. Für Godard, der künstlerische Produktion und Kritik stets miteinander verflocht, muss ein Film auch das Medium selbst reflektieren.

 

So ergeben sich konkrete Fragen wie: Inwiefern trägt das Kino mit seinen Darstellungen von Tod und Terror Mitschuld an realen Kriegen? Oder philosophische Überlegungen wie: Sehen wir den realen Gegenstand oder nur das, was uns das Bild vermitteln will? Lineare Geschichten hat Godard stets verachtet. Seine künstlerische Haltung, nach der die Präsenz der Bilder wichtiger ist als ihre narrative Einbettung, führte er allerdings noch nie so konsequent vor.

 

Bilder sprechen mit Bildern

 

Hier werden nicht Geschichten mit Bildern illustriert, sondern Bilder Bildern gegenübergestellt. Weil sie der Sprache überlegen sind, bieten sie nicht nur andere Geschichten an, sie erzählen auch anders. Mit Blick auf den eingangs zitierten Satz scheint auch Godard dem Repräsentierten Gewalt zuzufügen. Im Gegensatz zum Mainstream-Kino verbirgt er diese Gewalt jedoch nicht.