München + Bern + Bilbao

El Anatsui – Triumphant Scale

El Anatsui: Stressed World, 2011, Aluminum und Kupferdraht, 442 x 594.4 cm, © El Anatsui. Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York. Fotoquelle: Haus der Kunst
Nur echt mit Goldkante von der Goldküste: Monumentale Wandbehänge aus Metall machten den Ghanaer El Anatsui weltberühmt. Das Haus der Kunst präsentiert seine bislang größte Werkschau – er verwandelt Recycling-Schrott in ein Fest fürs Auge.

Einladung nach Eldorado: Auf dem Ausstellungsplakat blinkt und bauscht sich verführerisch viel Gold- und Silberglänzendes, dazwischen kleine Farbtupfer. Was genau zu sehen ist, bleibt unbestimmt: Die schillernden Schuppen-Teilchen könnten Pailletten einer Galarobe sein, oder der Edelmetallbeschlag einer Kostbarkeit – oder auch dicht gedrängte Hüttendächer im Gegenlicht aus der Luft. Jedenfalls lässt sich in München, das mehr als jede andere deutsche Stadt dem schönen Schein zugetan ist, kaum ein besserer Blickfang denken.

 

Info

 

El Anatsui -
Triumphant Scale

 

08.03.2019 - 28.07.2019

täglich 10 bis 20 Uhr,

donnerstags bis 22 Uhr

im Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, München

 

Weitere Informationen

 

13.03.2020 - 21.06.2020

täglich außer montags

10 bis 17 Uhr,

dienstags bis 21 Uhr

im Kunstmuseum Bern, Hodlerstraße 8-12, Schweiz

 

Weitere Informationen

 

17.07.2020 - 01.11.2020

im Guggenheim Museum, Bilbao, Spanien

 

Zwar wurde das sagenumwobene Eldorado von den Spaniern in Südamerika vermutet. Doch auch in Afrika gibt es vergleichbar legendäre Landstriche. Der heutige Staat Ghana, in dem El Anatsui 1944 zur Welt kam, wurde von europäischen Seefahrern ab dem 15. Jahrhundert „Goldküste“ genannt; so hieß die spätere britische Kolonie bis zur Unabhängigkeit 1957. Zurecht: Das im Hinterland dominierende Volk der Aschanti beutete ergiebige
Goldvorkommen aus; die Erlöse aus dem Goldhandel ermöglichten ihm den Aufbau eines mächtigen Reiches, das erst um 1900 von den Briten erobert wurde.

 

Ghanas virtuose Bronzegießer

 

Noch heute ist Ghana in ganz Westafrika bekannt für seine prächtigen Gelbguss-Arbeiten. Vor allem rund um die frühere Aschanti-Hauptstadt Kumasi formen virtuose Handwerker filigrane Gebilde aus Wachs; sie werden anschließend mit einer hellen Bronzelegierung ausgegossen. Solche golden schimmernde Kunstwerke dürften El Anatsui häufig begegnet sein, als er von 1965 bis 1969 an der Universität von Kumasi studierte.

 

1975 ging der Künstler an die Universität von Nsukka in Nigeria, wo er 39 Jahre lang als Lehrkraft tätig war und bis heute lebt. An der ersten Hochschule, die nach Nigerias Unabhängigkeit 1960 von Schwarzen gegründet wurde, wird insbesondere das kulturelle Erbe der Region gepflegt, etwa überlieferte Zeichensysteme wie die Uli-Muster der Ibo in Ostnigeria oder die Adinkra-Symbole der Aschanti – sie sind keine Schriften, sondern eher mit Piktogrammen vergleichbar.

Impressionen der Ausstellung


 

Deko-Zierteller + Bruch-Keramik

 

El Anatsui begann, solche Zeichen und Muster auf hölzerne Scheiben zu übertragen. Sie gleichen den Präsentations-Platten, auf denen ghanaische Händler ihre Waren arrangieren, und können ihre Herkunft kaum verleugnen: An der Wand ähneln sie Deko-Ziertellern. Zu eigenständigeren Ausdrucksformen fand der Künstler, als er sich der Keramik zuwandte. Seine „Broken Pots“ („Zerbrochene Töpfe“) sind schrundige und zugleich komplexe Terrakotta-Plastiken mit reich verzierten, aber zertrümmerten Oberflächen und undurchschaubar verstrebtem Innenleben.

 

Mit Kettensäge + Flammenwerfer

 

Als Stipendiat in den USA entdeckte El Anatsui 1980 ein neues Werkzeug: die Kettensäge. Damit begann er, vielteilige Reliefs und Stelen aus Holz herzustellen, die er aufwändig weiter bearbeitete. Der diesen Holzarbeiten gewidmete Saal ist einer der eindrucksvollsten der Schau: Mit verschiedenen  Bohr-, Schleif- und Brenntechniken entlockt der Künstler dem organischen Material eine unglaubliche Vielfalt an Erscheinungsformen und Effekten.

 

Manche eng mit Kreisen oder Rechtecken bedeckte Flächen wirken, als seien sie bedruckt – ähnlich der kleinteiligen Muster auf den in Ghana beliebten Kente-Stoffen. Andere Partien sehen aus, als hätten Termiten oder Flammen sie zerfressen. Solche Spuren von schöpferischer Ordnung und chaotischer Zerstörung verflicht der Künstler zu fesselnden Vexierbild-Objekten – die sich auch noch, da aus beweglichen Elementen gefertigt, beliebig rekombinieren lassen.

 

Geknüpft von 100 Helfern

 

Zum Material seines Lebens fand El Anatsui jedoch, als er sich um die Jahrtausendwende für einen neuen Werkstoff entschied: Metall-Müll. Genauer: Schraubverschlüsse und Banderolen aus Aluminiumfolie auf Wein- und Schnapsflaschen. Da in Afrika fast alles wiederverwendet wird, fallen bei den Abfüllern große Mengen dieser Kleinteile an. Diese schneidet, rollt, verdreht oder quetscht der Künstler; dann verknüpft er Abertausende von ihnen mit Kupferdraht zu großflächigen Gebilden.

 

Oder eher: Er lässt verknüpfen. Inzwischen beschäftigt El Anatsui bis zu hundert Hilfskräfte, um seine Kunstwerke herzustellen. Mit ihnen wurde er binnen weniger Jahre zum weltweit bekanntesten zeitgenössischen Künstler aus Afrika; viele renommierte Großmuseen wie Tate Gallery, Centre Pompidou, Museum of Modern Art et tutti quanti kauften Arbeiten von ihm an. Was ihre Faszination ausmacht, vermittelt diese erste Retrospektive seines Œuvres in Europa äußerst anschaulich; sie wird im kommenden Jahr auch in Bern und Bilbao gezeigt.

 

Wandteppich, Relief oder Hängeplastik?

 

Dafür ist das Haus der Kunst genau der richtige Ort. Von seinen riesigen, streng rechtwinkligen Räumen werden viele Exponate oft erschlagen; oder sie verkümmern im Eiseshauch totalitären Geistes, der dieser Architektur nicht auszutreiben ist. Ganz anders die Arbeiten von El Anatsui: Sie verlangen geradezu nach derart hohen, kahlen Wänden; sie bedecken die Flächen, umhüllen sie und finden kaum genug Platz, um sich auszubreiten – wobei der Künstler jedes Exemplar einzeln modelliert, indem er rafft oder staucht.

 

Den treffenden Begriff dafür zu finden, fällt schwer: Sind es Wandteppiche – quasi Gobelins der Wegwerfgesellschaft? Sind es Reliefs – aber mit unzähligen Knüpfpunkten, so dass sie wie Kettenhemden jede beliebige Form annehmen können? Oder eher Hängeplastiken? Eingedenk der großen Tradition, in der dieser Künstler steht und arbeitet: Kein Kulturkreis hat mehr und vielfältigere Skulpturen hervorgebracht als der schwarzafrikanische.

 

Vertikale Landschaften durchmessen

 

Auch diese Variante könnte facettenreicher kaum sein: Je nach Lichteinfall und Betrachter-Position erscheinen die Wandbehänge in jedem Moment unterschiedlich. Das Auge mag sich kaum satt sehen an vertikalen Landschaften aus Hügeln, Tälern, gezackten Graten und sanft auslaufenden Wellen. Zugleich sorgen die bunt bedruckten Aluschnipsel für ständig changierende Farbtöne; El Anatsui verteilt sie so rhythmisch im Gewebe wie einst Wassily Kandinsky auf der Leinwand. Und immer wieder Gold und Silber, die Lichtreflexe von Luxus und Prunk.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Megalopolis - Stimmen aus Kinshasa" - faszinierende Überblicksschau über Recycling-Künstler aus dem Kongo im Grassi-Museum, Leipzig

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "The Music of Color: Sam Gilliam, 1967–1973" - eindrucksvolle Werkschau der freischwingenden Leinwände des abstrakten schwarzen US-Künstlers in der Kunsthalle, Basel

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Schätze der Weltkulturen - Die Großen Sammlungen: The British Museum" - mit Werken von El Anatsui in der Bundeskunsthalle, Bonn.

 

Was paradoxer kaum sein könnte: Einst waren glänzende Edelmetalle untrügliche Insignien von Reichtum und Macht. Das hat sich in der Massenproduktion erledigt; diese Gehänge bestehen nicht einmal aus Talmi, sondern aus der letzten Schwundstufe: Abfall. Dennoch geht von ihnen unwiderstehliche Anziehungskraft aus – nicht aufgrund ihres Materialwerts, sondern wegen der Raffinesse ihres Arrangements. Wie bei vielen Arbeiten afrikanischer Bildhauer: Neuschöpfungen aus Second-Hand-Material sind ihre Domäne. El Anatsui hat ihnen nur voraus, dass er eine bislang nie gesehene Objektklasse erfand.

 

Fassade im Panzerplatten-Look

 

Das bewahrt ihn nicht vor dem Zwang des Kunstbetriebs zur Selbstüberbietung. Etwa bei den drei Auftragsarbeiten für diese Ausstellung: Der eine gesamte Saalwand füllende Vorhang „Rising Sea“ („Steigender Meeresspiegel“) überzeugt als Öko-Kritik noch durch seine dezent blaugrau-silberne Farbgebung; Form und Sujet passen zusammen.

 

Dagegen wirkt das Labyrinth aus geknüpften Stellwänden im Mittelsaal des Hauses wie ein monströses Spielzeug, als luftiger Nachfahre von Barock-Irrgärten. Und die Outdoor-Installation „Second Wave“ sprengt endgültig jedes Maß. Diese Verkleidung der Außenfassade aus feldgrauen, verschweißten Druckplatten erinnert an Panzerplatten und Bombenschutz; das hätte den Bauherren vermutlich gefallen.

 

Keine Kunst ohne Spritverbrauch

 

Besser, man ignoriert das martialische Entrée und erfreut sich am schwerelosen Farb- und Lichterspiel im Inneren – das so wertvoll erscheint, obwohl sein Rohstoff praktisch wertlos ist. Bleibt zu hoffen, dass trotz des berückenden Bling-Bling die Besucher auch ein paar Gedanken an die Produktionsweise verschwenden: Für jeden herrlichen Wandbehang wurden zuvor mehrere Tankwagen-Füllungen von Alkohol ausgetrunken.