Vincent Lindon

Streik (En Guerre)

Die Streikenden, darunter Gewerkschafter Laurent Amédéo (Vincent Lindon, mi.), marschieren im Protestzug durch die Stadt. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 25.4.) Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will: Arbeiter kämpfen gegen die Schließung ihrer Fabrik. Vincent Lindon gibt als Gewerkschafter alles, doch vergeblich. Packend legt Regisseur Stéphane Brizé die Ängste der Gelbwesten-Generation bloß.

Dieser Film reanimiert ein Genre, das fast ausgestorben ist: die Arbeitskampf-Reportage. Obwohl Bilder von lautstarken Protesten, Verhandlungen, Werkstor-Blockaden und Krawallen zuweilen in TV-Nachrichten zu sehen sind – doch praktisch nie auf der Kino-Leinwand.

 

Info

 

Streik (En Guerre) 

 

Regie: Stéphane Brizé

114 Min., Frankreich 2018;

mit: Vincent Lindon, Mélanie Rover, Jacques Borderie

 

Weitere Informationen

 

Das war in der Anfangszeit des Autorenfilms völlig anders. Um 1970 gehörte es für linke Filmemacher zum guten Ton, in die Fabriken zu gehen und dort Arbeitsbedingungen, Forderungen der Beschäftigten und Auseinandersetzungen mit der Chefetage aufzunehmen. Bloß: Die Hinwendung der Regisseure zum Proletariat fand keine Gegenliebe – solche Filme interessierten sie wenig. Wie Alfred Hitchcock einmal bemerkt hat: Eine Frau, die den ganzen Tag am Spülstein schufte, wolle abends im Kino keine Frau am Spülstein sehen.

 

Depression statt Klassenkampf

 

Zudem hat sich die Arbeitswelt längst flexibilisiert, individualisiert und globalisiert. Heutige Dramen handeln eher von Einzelnen, die wegrationalisiert, gemobbt oder sonstwie freigesetzt werden und kein Bein mehr auf den Boden bekommen – Depression und Rückzug anstelle von Klassenkampf. Dennoch gibt es immer noch große Betriebe mit vielköpfiger Belegschaft, die organisiert für ihre Interessen streiten. Davon handelt dieser Film.

Offizieller Filmtrailer


 

Job-Garantie wird ignoriert

 

Im Provinzstädtchen Agen sollen die Perrin-Werke, der größte Arbeitgeber in der Region, geschlossen werden. Vor zwei Jahren haben die rund 1100 Beschäftigten Lohnkürzungen zugestimmt und dafür eine fünfjährige Job-Garantie erhalten – dadurch wurde ihre Niederlassung wieder profitabel. Darüber geht die deutsche Muttergesellschaft jetzt hinweg: Sie will die französische Fabrik stilllegen und ihre Produktion ins Billiglohnland Rumänien verlagern, um Kosten zu senken und die Rentabilität zu erhöhen.

 

Dagegen wehren sich die Betroffenen unter Führung des Gewerkschafters Laurent Amédéo (Vincent Lindon). Mit den üblichen Mitteln: Streikposten an der Werkszufahrt, Protestmärsche durch die Innenstadt, Forderungskataloge an die Adresse der Arbeitgeber. Vor allem wollen sie mit dem Vorstandsvorsitzenden des deutschen Eigentümers direkt verhandeln – was der kategorisch ablehnt.

 

Konfrontations- gegen Hinhalte-Strategie

 

Nun beginnt ein zähes Tauziehen, das der Film hautnah beobachtet; er wirkt dokumentarisch, obwohl alle Szenen und Dialoge detailliert vorformuliert wurden. Mitreißend fängt Regisseur Brizé die Stufen und Mechanismen eines Arbeitskampfes ein: wie Manöver und Strategiewechsel auf beiden Seiten das Kräfteverhältnis allmählich verschieben. Während die Hardliner um Amédéo unnachgiebig auf Konfrontation setzen, zweifeln immer mehr Kollegen an dieser Taktik: Sie wollen nur noch möglichst hohe Abfindungen aushandeln.

 

Derweil spielt die Arbeitgeberseite auf Zeit und deutet nebulöse Zugeständnisse an. Überdies schaltet sich die Politik ein: Der Wirtschaftsberater des Präsidenten versichert den Streikenden seine Unterstützung – ein Lippenbekenntnis für die mit ihnen sympathisierende Öffentlichkeit. All das wird von den Medien kontinuierlich, aber kurzatmig begleitet; für komplexe Hintergründe hat das Fernsehen keine Zeit.

 

Wie Eisenstein-Film von 1925 betitelt

 

Die Stimmung kippt, als der deutsche CEO doch zu Pro-forma-Gesprächen vorfährt und sein Wagen von Hitzköpfen demoliert wird: Eine sicherheitssüchtige Gesellschaft toleriert zwar strukturelle Gewalt, aber keine physische vor laufenden Kameras. Und der vermeintliche Weiße Ritter, den Anführer Amédéo als Retter des Betriebs auftreibt, verfolgt seine eigene Agenda.

 

Ob der deutsche Verleih mit dem nüchternen Filmtitel „Streik“ bewusst an einen Klassiker der Kinogeschichte erinnern will? Genauso hieß der erste Spielfilm des sowjetischen Regie-Genies Sergej Eisenstein von 1925: Dieser Arbeiter-Ausstand zur Zarenzeit wurde vom Militär blutig niedergeschlagen. Darauf scheint wiederum der französische Originaltitel von Brizés Film anzuspielen: „En Guerre“, also „Im Krieg“.

 

PR-GAU mit Salamitaktik vermeiden

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Wert des Menschen – La Loi du Marché" – Porträt eines Langzeit-Arbeitslosen  von Stéphane Brizé mit Vincent Lindon

 

und hier eine Besprechung des Films "Ein Leben" - brillante Adaption eines Provinzadligen-Romans von Guy de Maupassant durch Stéphane Brizé

 

und hier einen Beitrag über den Film "Zwei Tage, Eine Nacht" - fesselndes Sozialdrama über drohenden Jobverlust von Jean-Pierre + Luc Dardenne mit Marion Cotillard

 

und hier einen Bericht über die Doku "Goldrausch – Die Geschichte der Treuhand" über die Abwicklung der DDR-Wirtschaft von Prod. Thomas Kufus

 

und hier einen Artikel über den Film “Mein Stück vom Kuchen” – originelle Arbeitslosen-Tragikomödie von Cédric Klapisch.

 

Doch abgesehen von ein paar Schrammen des CEO blutet hier niemand. Kriegerisch wirkt eher die Konstellation: Zwei feindliche Parteien mobilisieren gegeneinander alle Ressourcen, inklusive schmutziger Tricks. Für die einen stehen Bilanzen und Boni auf dem Spiel, für die anderen – nicht Leib und Leben, aber ihre bürgerliche Existenz. Außerhalb der Fabrik gibt es in der Gegend keine akzeptablen Arbeitsplätze, so die Prämisse.

 

Diese Voraussetzung mag man für etwas konstruiert halten. Ebenso den Transfer der gesamten Produktion nach Rumänien: Die Hochphase des Outsourcing war vor zehn bis 20 Jahren. Häufig wurde derlei rückgängig gemacht; auch Hochlohnländer haben Standortvorteile. Schließlich scheut jedes Unternehmen einen derartigen PR-GAU: Wer Fabriken dicht machen will, tut das scheibchenweise. In diesem Jahr ein paar Stellen abbauen, im nächsten Jahr wieder – am besten im Rahmen der natürlichen Fluktuation.

 

Französische Militanz

 

Regisseur Brizé beschreibt also einen idealtypischen Fall, aber das bravourös – parteilich, aber nicht parteiisch: Alle Seiten kommen ausführlich zu Wort. Offenbar interessieren ihn solche Ausnahmefälle, ob individuell oder sozial: Er dreht abwechselnd subtile Charakterstudien wie „Mademoiselle Chambon“ (2009) oder „Ein Leben“ (2016) und neorealistische Arbeitswelt-Analysen wie „Der Wert des Menschen“ (2015) und jetzt „Streik“. Dafür hat er mit Vincent Lindon einen fabelhaften Hauptdarsteller, der sämtliche Rollen virtuos verkörpert – ob schweigsam resigniert wie vor vier Jahren oder charismatisch agitierend wie im neuen Film.

 

Der mag dem hiesigen Publikum zuweilen sehr französisch anmuten: Militantes Auftreten ist seit der Revolution von 1789 de rigueur, um sich Gehör zu verschaffen. Und Klassenkampf-Parolen verkneifen sich die zahmen deutschen Gewerkschaften schon lange; sie treten lieber als konstruktive Sozialpartner auf. Dennoch: Das Machtgefälle zwischen haves and have nots ist im digitalen Turbokapitalismus tendenziell noch steiler geworden. Wer verstehen will, welche Ängste Gelbwesten-Wutbürger auf die Straßen treiben, sollte sich diesen Film ansehen.