In einer multimedial überfüllten Welt sind interessante Sujets zur knappen Ressource geworden. Und jede Reprise, jedes Remake muss sich fragen lassen, ob es dem von vielen Versionen schon Gesagten noch Neues hinzufügt oder bloß Bekanntes wiederkäut. Diese Frage stellt sich vor allem bei einem Biopic über Vincent van Gogh (1853-1890), dem wohl berühmtesten und beliebtesten Maler der Kunstgeschichte – sein Leben soll rund 100 Mal verfilmt worden sein. Doch dieser Film bietet eine neue, aufregende Perspektive auf ihn.
Info
Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit
Regie: Julian Schnabel,
111 Min., Frankreich/ Großbritannien/ USA 2018;
mit: Willem Dafoe, Oscar Isaac, Mads Mikkelsen
Nur aus Blinkwinkel des linken Auges
In 22 Jahren drehte Schnabel nur sechs Filme; alle ganz unterschiedlich, doch jeder war ihm ein persönliches Anliegen. Mit radikal persönlichem Blickwinkel, teils im Wortsinne: Sein erfolgreichster Film „Schmetterling und Taucherglocke“, der 2007 in Cannes für die beste Regie prämiert wurde, beschreibt das „Locked-In-Syndrom“ eines am ganzen Körper gelähmten Schlaganfall-Opfers, das nur noch sein linkes Augenlid bewegen kann. Solche extrem eingeschränkte Sicht auf die Umwelt geben große Teile des Films wider – der Zuschauer erlebt sie hautnah mit. Ähnliches gelingt Schnabel nun bei Vincent van Gogh.
Offizieller Filmtrailer
Lineare letzte Lebensjahre
Wobei er die Stationen seiner letzten beiden Lebensjahre ganz linear und unspektakulär nacherzählt: Die Reise aus Paris nach Arles im Februar 1888; die Ankunft seines Künstlerfreundes Paul Gauguin (Oscar Isaac) dort im Oktober; ihr spannungsgeladenes Zusammenleben, das im Streit und van Goghs abgeschnittenem Ohr endete.
Dann Krankenhausaufenthalt, 1889 freiwillige Übersiedelung in die Nervenheilanstalt von Saint-Rémy, im Mai 1890 kurze Rückkehr zu seinem Bruder Theo (Rupert Friend) nach Paris und überstürzte Weiterfahrt ins Dorf Auvers-sur-Oise zu Dr. Gachet. Dort starb van Gogh im Juli an einer Schusswunde – von seiner oder anderer Hand, ist strittig.
Ins Hirn des Künstlers kriechen
Alles bekannt, aber alles noch nie so gesehen. Denn Schnabel schlägt sich entschieden auf die Seite seines Helden; Willem Dafoe verkörpert ihn kongenial. Sein irrlichternder Blick und fahriges Gebaren; sein energisches Vorwärtsdrängen, das oft keine Richtung findet; seine aufbrausenden Anfälle, die posthum als Symptome von Wahn und Depressionen gedeutet worden sind – die tiefe Isolation dieses Mannes, seine fundamentale Fremdheit unter den Menschen, macht Dafoe in jedem Moment fast schmerzhaft anschaulich. Keine Gesellschaft, nirgends.
Doch zugleich eine extrem gesteigerte Empfindsamkeit gegenüber der Natur: Für Schnabel sah van Gogh in all ihren Elementen Erscheinungsformen des Göttlichen, die er mit malerischen Mitteln einfangen wollte. Dazu begleitet ihn die Kamera – wackelnd, kreisend und taumelnd wie seine rasch wechselnden Gemütszustände – bei ausgedehnten Streifzügen durch die Landschaft. Und sie kriecht geradezu in sein Hirn hinein. Seine ins Euphorische verschobene Wahrnehmung visualisiert sie mit einem so simplen wie genialen Trick: einer geteilten Diopterblende, die wie eine Gleitsichtbrille wirkt. Ziele im Hintergrund erscheinen klar und scharf, der Vordergrund ist verschwommen.
Schnabel lehrt Schuhe malen
Hintergrund
Lesen Sie hier ein Interview mit Julian Schnabel über "Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit"
und hier eine Rezension des Films "Loving Vincent" - brillanter Animationsfilm im Van-Gogh-Stil von Dorota Kobiela + Hugh Welchman
und hier eine Besprechung des Films "Julian Schnabel - A Private Portrait" - erhellende Doku über den Künstler von Pappi Corsicato
und hier einen Bericht über den Film "Gauguin" - Biopic über Van Goghs Maler-Freund mit Vincent Cassel von Édouard Deluc.
Und seine Fertigkeiten vor laufender Kamera demonstriert – etwa anhand eines so unscheinbaren Objekts wie einem Paar alter, abgetragener Schuhe. Dafoe malt wirklich: erst Umrisse, dann Schraffuren, dazu farbige Akzente; in wenigen Schritten und Schnitten entsteht ein ansehnliches Bild in Van-Gogh-Manier.
Erlöser mit Pinsel + Palette
Geist und Körper, Vision und Elend verdichtet der Film in der wohl anrührendsten Szene: In der Nervenheilanstalt befragt ein Priester (Mads Mikkelsen) einfühlsam Van Gogh nach seinen Beweggründen. Der Sohn eines Pfarrers, der selbst ein Jahr als Hilfsprediger in Belgien tätig gewesen war, äußert ein hochmögendes Selbstverständnis: Er müsse malen und dafür jedes Leid in Kauf nehmen, um von ihm geschaute Wahrheiten den Menschen vor Augen zu führen. Verständen sie das jetzt noch nicht, dann vielleicht in der Zukunft.
In wenigen Sätzen formuliert der Patient das Credo jeder Kunstreligion – und katapultiert es in die Moderne. Der Künstler als Seher, dessen Mission es ist, den Unwissenden die Augen zu öffnen; und zwar nicht für Bestehendes, sondern für noch nie Dagewesenes. Diesen Anspruch sollten die klassischen Avantgarden in allen Varianten durchbuchstabieren, mit dem gleichen Erlösungspathos. Van Gogh mag einsam und arm gestorben sein, doch er wurde zum Vorbild für unzählige Nachfolger. Das erhellt den opaken Filmtitel „An der Schwelle zur Ewigkeit“.