
Anfangs scheint alles eindeutig farblich markiert: Das japanische Star-Model Kyôko (Ami Tomite) lebt im gelb-goldenen Käfig aus Selbstbeweihräucherung, Operndiva-Launen und schrillen Tüll-Kleidern. Nur auf der blutroten Toilette hat sie einen Anfall von Selbsthass – bis ihre brave Assistentin Noriko (Mariko Tsutsui) kommt. Flugs demütigt Kyôko ihre gefügige Angestellte: runter auf alle Viere, kläffe wie ein Hund, küss mir die Füße!
Info
Antiporno
Regie: Sion Sono,
101 Min., Japan 2016;
mit: Ami Tomite, Mariko Tsutsui
Erotische Fantasy in Rosa
„Cut“, ruft von hinten ein Regisseur: Kyôko ist aus ihrer Rolle gefallen. Schnitt und Schwenk zeigen: Alle Akteure befinden sich am Set eines „Pink Movie“, der sehr japanischen Variante von Softcore-Streifen. Solange darin genug Sexszenen vorkommen, haben die Filmemacher ansonsten große Freiheiten und dürfen die ausgefallensten Ideen unterbringen – solche erotische Fantasy ist genau das Richtige für Sion Sono.
Offizieller Filmtrailer OV
Arbeitswut + Kolportage wie bei Fassbinder
Der hyperaktive 57-Jährige geistert als Unikum durch Japans Filmindustrie: Seit 1984 hat er mehr als 50 Filme gedreht, meist B-Movies quer durch alle Genres. Science Fiction, Horror, Psychothriller, Monster, Vampire – einfach alles, mehr oder weniger trashig mit niedrigen Budgets. Sonos Arbeitswut ohne Scheu vor Kolportage erinnert an Rainer Werner Fassbinder: Wie dieser nutzt er triviale Versatzstücke, um Tabus und blinde Flecken der japanischen Gesellschaft schonungslos freizulegen.
Oft mit subtiler Psychologie: In „Guilty of Romance“ (2011) beschreibt er die éducation érotique einer Hausfrau, die ins Rotlichtmilieu gerät. Zuweilen sogar mit subtilen Stilmitteln: „The Whispering Star“ (2015) ist eine elegische SciFi-Allegorie in Schwarzweiß als hintergründiger Kommentar auf die Katastrophe von Fukushima. Auch „Antiporno“ zeugt von Sonos unerschöpflicher Fantasie bei der Bildgestaltung – doch diesmal wirkt das Ergebnis ziemlich unausgegoren.
Küchenpsychologie in Rückblenden
Hauptfigur Kyôko entpuppt sich als Schauspiel-Anfängerin, mit der alle Anderen so rücksichtslos umgehen wie sie zuvor mit ihrer Assistentin. In der Drehpause wird sie von Noriko geohrfeigt, der Regisseur simuliert ihre Vergewaltigung. Wie der Backfisch in diese Schlangengrube geriet, erzählt eine Folge verschachtelter Rückblenden; sie können kaum kaschieren, dass die darin ausgebreitete Küchenpsychologie ziemlich banal ist.
Kyôkos geliebte Schwester starb einen gewaltsamen Tod; nun erscheint sie ihr als Phantom, das am Klavier klimpert. Kyôkos Vater verstörte sie durch wilden Sex mit der Stiefmutter. Ihr inzestuöses Begehren trieb sie erst in die Arme eines Rohlings, der sie entjungferte, anschließend zum Casting des „Pink Movies“. Hauptsache, sie steht vor laufender Kamera; nur dann fühlt sie sich lebendig. Schließt sie die Augen, hat sie dauernd Visionen, wie ihre Eltern es treiben.
Farben-Orgie als Finale
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Whispering Star" – melancholisches Sci-Fi-Kammerspiel über interplanetarischen Paketdienst von Sion Sono
und hier eine Besprechung des Films "Guilty of Romance" – packender Erotik-Psychothriller aus Japan von Sion Sono
und hier einen Bericht über den Film "Lowlife Love" – bissig treffende Satire auf Japans "Pink-Movie"-Branche von Eiji Uchida
und hier einen Beitrag über den Film "Nymph()maniac – Teil 1" – Episodenfilm von Lars von Trier mit Charlotte Gainsbourg
und hier eine Kritik des Films "Nymph()maniac – Teil 2" – Episodenfilm von Lars von Trier mit Charlotte Gainsbourg.
Wie meistens gelingen Sono auch diesmal mit einfachen Mitteln visuell beeindruckende Momente: etwa eine Vision von Kyôko, in der Frauengestalten in endlose weiße und rote Banner voller Schriftzeichen gehüllt sind – sie entziffern zu können, wäre wohl aufschlussreich. Oder ein Finale, in der die Hauptfigur eimerweise mit flüssiger Farbe übergossen wird; diese Pigment-Orgie im Wortsinne verleitet zum Kopulieren.
Sex als seltener Lottogewinn
Doch solche Verfremdungseffekte werden zum Selbstzweck in einer beinahe beliebigen Szenenfolge. Ähnlich wie in den letzten Filmen eines Lars von Trier, mit dem Sono die Lust am hemmungslosen Genre-Mix teilt, wirken die Figuren recht achtlos skizziert und die Handlung arg plakativ – wenig mehr als ein Vorwand, um möglichst viele Überraschungen aneinander zu reihen.
Insofern ist „Antiporno“ tatsächlich ein grell überschminkter Anti-Film. Mit einem ähnlichen Exemplar, von Triers Vier-Stunden-Epos „Nymphomaniac“ von 2013, hat er gemeinsam, dass guter Sex darin so selten ist wie ein Lottogewinn: von allen begehrt, für fast keinen zu haben.