Sherry Hormann

Nur eine Frau

Kein Traum in Weiß - Aynurs (Almila Bagriacik) erzwungene Hochzeit mit Botan. Foto: (c) Mathias Bothor. Fotoquelle: NFP marketing & distribution*
(Kinostart: 9.5.) Freiheitsdrang kollidiert mit Frauenbild: Regisseurin Sherry Hormann lässt die von ihrer Familie 2005 ermordete Kurdin Hatun Sürücü aus dem Jenseits berichten. Mit diesem dramaturgischen Kniff eröffnet der Film ganz neue Perspektiven auf die Bluttat.

Auf offener Straße wurde die junge Hatun Aynur Sürücü (Almila Bagriacik) von ihrem Bruder erschossen; das geschah 2005 mitten in Berlin. Auf die Tat folgten ein Aufschrei in Zivilgesellschaft und Medien, eine Fernsehdokumentation und ein Sachbuch. Auch Feo Aladags Spielfilm „Die Fremde“ (2010) lehnte sich eng an Aynurs Geschichte an.

 

Info

 

Nur eine Frau

 

Regie: Sherry Hormann,

90 Min., Deutschland 2019;

mit: Almila Bagriacik, Meral Perin, Rauand Taleb

 

Website zum Film

 

Dass Sherry Hormanns „Nur eine Frau“ dennoch eine neue Perspektive auf das Thema bieten kann, liegt vor allem an einem einfachen, aber höchst produktiven Kniff des Drehbuchs: Der Film lässt Aynur ihre Geschichte selbst erzählen – zwar aus dem Totenreich, aber so lebendig, wie man es sich nur wünschen kann. „Mein Name ist Hatun Sürücü, aber alle nennen mich Aynur“, hebt ihre Stimme aus dem Off an. Die Kamera folgt Passantinnen auf der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg: „Sie könnte ich sein, oder auch sie. Aber nee: Das bin ich.“

 

Keine Schwarz-Weiß-Malerei

 

Damit endet die Kamerabewegung über der mit einem Tuch bedeckten Leiche, genau an der Stelle im Stadtteil Tempelhof, an der sich das reale Verbrechen ereignet hat. Leichtigkeit der Erzählstimme und Schwere der Untat prallen erstmals aufeinander. Der große Vorteil dieser subjektiven Perspektive ist, dass der Blick auf die Familie differenziert bleibt und die Erzählung nicht in Schwarzweiß-Malerei verfällt, die dann etwa den Deutungsmustern islamfeindlicher Wutbürger offen stünde.

Offizieller Filmtrailer


 

Das Unfassbare wird fassbar

 

Zwar erklärt Aynur früh im Film, dass sie ihren Zuhörern wohl nicht alle kulturellen Unterschiede zwischen ihrer radikal-sunnitischen Familie und der großstädtisch-liberal geprägten Mehrheitsgesellschaft vermitteln kann. Dennoch wird schnell deutlich, dass es ihr bei aller berechtigten und notwendigen Kritik an Geschlechterrollen in ihrem Umfeld nicht darum geht, Religion oder Tradition pauschal zu verteufeln.

 

Stattdessen erlaubt ihr ihre jenseitige Sprecherposition eine Mischung aus Klarsicht und Staunen, aus Ironie und Verständnis, die die Unfassbarkeit des Geschehenen greifbar macht. Zudem veranschaulicht ihr Einblick, wie alle Beteiligten in ihre jeweilige Lebenswelt verflochten sind. Der Film ergänzt Spielszenen durch dokumentarisches Material und unterbricht den Fluss der Handlung immer wieder durch einmontierte Standfotos.

 

Nachdenken statt überwältigt werden

 

Die Protagonisten, allen voran die Eltern (Meral Perin und Mürtüz Yolcu) und Brüder, sind sehr glaubwürdig gecastet; dadurch macht der Blick in ihre Gesichter, der durch Standbilder intensiviert wird, es leichter, ihnen tatsächlich näher zu kommen. Zugleich schaffen solche Stilmittel eine Distanz, die es ermöglicht, über die Heftigkeit der geschilderten Emotionen und Begebenheiten nachzudenken, anstatt sich von ihnen einfach nur überwältigen zu lassen.

 

Vor allem aber gelingt es Almila Bagriacik in der Hauptrolle – die ihren ersten Auftritt ausgerechnet in „Die Fremde“ hatte und seither etwa in der TV-Serie „4 Blocks“ über Neukölln-Gangster oder auch als Kommissarin im Kieler „Tatort“ zu erleben war – mit ihrem ruhigen und doch körperlichen Spiel, die innere Zerrissenheit Aynurs erfahrbar zu machen: ihr Schwanken zwischen Freiheitsdrang, Eigensinn und der bis zuletzt vorhandenen Liebe zu ihrer Familie.

 

Blaumann ersetzt Kopftuch

 

Auch die Kraftanstrengungen, die hinter dem Ausbruch aus der gewalttätigen Ehe in Istanbul stecken – im Alter von nur 15 Jahren wurde sie dorthin zwangsverheiratet – und ihre Bemühungen, trotz anschließender Überwachung durch die Familie ein selbstbestimmtes Leben zu führen, nimmt man ihr durchgängig ab. Obwohl sie nun ein kleines Kind zu versorgen hat, beginnt sie eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Bei diesem schwierigen Neustart findet sie Unterstützung bei einer Betreuerin vom Jugendamt und einer neuen guten Freundin.

 

Aynur legt ihr Kopftuch ab, zieht einen Blaumann an, geht zum ersten Mal tanzen – und verliebt sich in Tim (Jakob Matschenz). Mit ihm ist sie eine Zeit lang glücklich. Doch als sie sich nicht dazu durchringen kann, wegen der Anfeindungen durch ihre Brüder ganz mit ihrer Familie zu brechen, wie Tim es von ihr verlangt, knickt er ein und verlässt sie.

 

Todesurteil ist nicht zu stoppen

 

Verlassen und verzweifelt mobilisiert Aynur ein weiteres Mal Kraft für einen Neuanfang. Nicht zuletzt auf Anraten ihres Lieblingsbruders Aram (Armin Wahedi), der neben ihr als einziger in der Familie aus der Reihe tanzt – was er sich als Mann freilich eher erlauben kann – entscheidet sie sich, einen Job in Freiburg im Breisgau, also in sicherer Entfernung zur Familie anzunehmen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier ein Interview mit Produzentin Sandra Maischberger über "Nur eine Frau"

 

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und hier einen Bericht über den Film "Ein Junge namens Titli" – brillanter Kleingangster-Krimi über Zwangsheirat in Indien von Kanu Behl

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Junge Siyar" – Drama über Zwangsheirat + Ehrenmord unter irakischen Kurden im Exil von Hisham Zaman

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die langen hellen Tage" - Coming-of-Age-Drama über Brautraub + Zwangsheirat in Georgien von Nana Ekvtimishvili + Simon Groß

 

und hier eine Kritik des Films "Dügün - Hochzeit auf Türkisch" - Doku über deutsch-türkische Heiratsfeiern von Ayse Kalmaz und Marcel Kolvenbach.

 

Doch die Kränkungen sitzen zu diesem Zeitpunkt schon zu tief. Zu sehr haben die übrigen Brüder in Rage geredet und sich von dem extremistischen Prediger in der Moschee beraten lassen. Die Bestrafung dafür, dass Aynur „nur eine Frau“ ist, die sich nicht an die Regeln hält, ist da nicht mehr zu stoppen. Kurz nach ihrem 23. Geburtstag vollstreckt ihr jüngster Bruder das Todesurteil. Im Film heißt er Nuri (Rauand Taleb).

 

Freispruch für die Mittäter

 

Obwohl die Tat gemeinschaftlich geplant und organisiert worden ist, nimmt er, der neue starke Mann des Hauses, vor Gericht die Schuld allein auf sich. Er erhält eine Jugendstrafe, nach deren Verbüßung er in die Türkei abgeschoben wird. Für die Mittäterschaft der restlichen Familie können auch in der Folge nicht genügend Beweise gefunden werden.

 

Sherry Hormann erzählte 2009 im Film „Wüstenblume“ nach der Autobiografie von Waris Dirie aus Somalia eindrücklich von weiblicher Genitalverstümmelung. In „3096 Tage“ schilderte Hormann 2013 den Fall der Natascha Kampusch, die acht Jahre lang von ihrem Entführer versteckt und misshandelt worden war. Mit „Nur eine Frau“ hat die Regisseurin ein weiteres Mal eindrucksvoll Gewalt gegen Frauen thematisiert. Immer noch aktuell ist Aynurs Fall nicht nur, weil das Gerichtsverfahren gegen zwei ihrer Brüder 2017 in Istanbul mit Freisprüchen für die Angeklagten endete.

 

Ehrbegriff ist Herrschaftsinstrument

 

Es geht auch um die Deutungshoheit bei der Aufarbeitung. Verbrechen wie das an Hatun Sürücü wurden in den Medien als „Ehrenmord“ behandelt. Der Film stellt klar, dass eine solche Übernahme der Täter-Terminologie einer posthumen Verhöhnung der Opfer gleichkommt, denn ihr Ehrbegriff wird als ideologisches Konstrukt und Herrschaftsinstrument entlarvt. Damit leistet er dringend notwendige Aufklärungsarbeit.