Bertrand Mandico

The Wild Boys (Les garçons sauvages)

Dr. Sévérine (Elina Löwensohn), Herrin der mysteriösen Insel, trägt ihre Ringe nicht zum Schmuck. Foto: Ecce Films
(Kinostart: 23.5.) Frühlings Erwachen in den Tropen: Regisseur Bertrand Mandico entführt fünf Halbstarke auf eine Insel voller erotischer Reize. Ein irrwitziges, aber sorgsam komponiertes Kaleidoskop der Kinogeschichte – als faszinierend sinnliches Sehvergnügen.

Coming of Age als ultimative Räuberpistole: Anfang des 20. Jahrhunderts vergehen sich fünf Oberschüler – aus reichem Hause, gebildet und zügellos – an ihrer Lehrerin; sie binden die Frau rücklings auf ein Pferd und schänden sie. Zur Strafe werden sie einem zwielichtigen Kapitän (Sam Louwyck) überantwortet. Der raue Seebär verfrachtet sie auf ein Segelschiff und diszipliniert sie auf hoher See mit einfachen, aber effektiven Zwangsmaßnahmen.

 

Info

 

The Wild Boys
(Les garçons sauvages)

 

Regie: Bertrand Mandico,

110 Min., Frankreich 2017

mit: Vimala Pons, Elina Löwensohn, Sam Louwyck

 

Weitere Informationen

 

Sein Schiff steuert eine isolierte Urwald-Insel an. Durch üppig wuchernde Vegetation wandern die Jungen auf schmalen Pfaden in ein Tal, wo Aststümpfe von Bäumen süße Milch spenden und Venusfallen fleischliche Freuden gewähren. Derweil sucht der Kapitän seine Auftraggeberin auf: Die exzentrische Dr. Sévérine (Elina Löwensohn) ist die heimliche Herrscherin der Insel und ihrer anthropomorphen Pflanzenwelt.

 

Robinsons am Sandstrand

 

Auf der Rückfahrt meutern die Halbstarken; der Kapitän geht über Bord, sein Schiff kentert im Sturm. Die Jungen finden sich als gestrandete Robinsons auf dem Eiland wieder; nun wollen sie weiter von den paradiesischen Genüssen kosten, das es vermeintlich bietet. Doch allmählich erleben sie eine Metamorphose, die sie sich nie hätten träumen lassen – zu ihrer definitiven Domestizierung.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Von Schatzinsel bis Herr der Fliegen

 

Klingt wirr und wüst, nicht wahr? Wie saftige Kolportage, die hemmungslos Versatzstücke aus klassischen Abenteuer-Erzählungen und Tropen-Dramen aneinanderreiht: von Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“ (1883) und H.G. Wells‘ „Insel des Dr. Moureau“ (1896) über Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ (1899) bis zu William Goldings „Herr der Fliegen“ (1954); natürlich auch William S. Burroughs‘ gleichnamigen Roman von 1971, in dem eine zugedröhnte Jugendgang marodiert. All das steckt in „The Wild Boys“ – und noch viel mehr.

 

Bertrand Mandico ist einer der fantasievollsten und experimentierfreudigsten Regisseure im französischen Gegenwartskino. In 20 Jahren hat er fast 30 Filme gedreht, aber nur kurze und mittellange; „Les garçons sauvages“, so der Originaltitel, ist sein erster abendfüllender Spielfilm. In jedem Werk probiert er andere Genres und Bildsprachen aus, kreuzt und mixt sie miteinander. Oft geht es um Geschlechtliches; das zeigen schon Titel wie „Hormona“, „Souvenirs d‘ un montreur des seins“ („Erinnerungen eines Brüste-Schaustellers“) oder „Notre Dame des hormones“.

 

Felswand mit menschlichem Antlitz

 

Das erinnert an Guy Maddin. Der Kanadier dreht ebenfalls unentwegt Filme, die aussehen, als seien sie vor 100 Jahre entstanden: flackernd schwarzweiß und stumm mit Zwischentiteln, handkoloriert auf zerkratztem Zelluloid. Doch während Maddin meist willkürlich Augenpulver fürs Cineasten-Amüsement zusammenschüttet, wählt Mandico seine Stilmittel mit Bedacht; fein dosiert werden sie nie Selbstzweck, sondern stehen stets im Dienst der Erzählung.

 

Dabei zieht er souverän alle Register; angefangen mit kurzen Farbsequenzen als grellen Akzenten im körnigen Schwarzweiß-Film. Oder mit virtuosen Überblendungen: Wenn eine Felswand auf der Insel einen Jungen an des Kapitäns Gesichtszüge erinnert, montiert Mandico tatsächlich dessen Antlitz in die Landschaft.

 

Rauferei-Orgie im Federn-Regen

 

Balgen sich die Boys betrunken am Strand, was in eine brünstige Orgie abzugleiten scheint, regnen unversehens Wolken von Federn auf sie herab; ihr Wirbeln verstärkt den Tumult. Und im Tal der Freuden lassen ganz verschiedene Pflanzenformen an das Gleiche denken. Solche subtile und zugleich explizite Erotisierung des Bildraums gelingt sonst allenfalls manchen Animationsfilmen, etwa dem einzigartigen japanischen Historien-Psychotrip „Belladonna of Sadness“ von 1973.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Belladonna of Sadness" – einzigartig psychedelisch-erotischer Animationsfilm aus Japan von Eiichi Yamamoto

 

und hier eine Besprechung des Films "The Forbidden Room" - Remake-Potpourri aus Fake-Stummfilmen von Guy Maddin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Der Stachel des Skorpions" – sechs surreale Film-Installationen als “Cadavre exquis nach Luis Buñuels »L’Âge d’or«” in München + Darmstadt

 

und hier einen Artikel über den Film "Nocturama" - raffinierte Studie über sinnfreien Jugend-Terror von Bertrand Bonello

 

und hier einen Beitrag über den Film "Naked Lunch" - surreale Albtraum-Verfilmung des Junkie-Skandalromans von William S. Burroughs durch David Cronenberg.

 

Derlei verleiht dem Film eine dezent surrealistische Atmosphäre, wie etwa in den Werken von Jean Cocteau; sie ist im heutigen Kino mit seinen überprägnanten Spezialeffekten selten geworden. Die kann sich Mandico nicht leisten; stattdessen nutzt er historische Bildideen und -tricks aus einer Zeit, als das Kino noch intensiver die Vorstellungskraft kitzelte. Alle Szenen sind linear genug, um dem Geschehen problemlos zu folgen; gleichzeitig enthalten sie irritierende Kontraste, die diverse Assoziationen auslösen und Deutungen erlauben.

 

Mit Andeutungen verstören

 

In diesem Zwischenraum zwischen Ein- und Vieldeutigem entzündet sich Phantasie, entsteht Kino im Kopf – und die Faszination dafür. Wie sein Regie-Kollege Bertrand Bonello lässt Mandico seine Schauspieler öfter Masken tragen oder ihr Gesicht verbergen. So zielstrebig sie auch agieren: Keiner kann erkennen, was sie dabei bewegt. Die Differenz zwischen Person und Darstellung bleibt gewahrt, und manche Enthüllung erweist sich bald als weitere Maskerade.

 

Er möge keine realistisch harte Gewalt in Filmen, sagt der Regisseur: Angedeutetes könne viel verstörender wirken. Ähnlich verhält es sich mit Sexuellem. Alles Mögliche spielt darauf an: Der Kapitän ließ auf sein Glied die Geschichte seines Liebeslebens tätowieren, die Jungs essen ausschließlich haarige, saftspritzende Früchte, die gesamte Insel erscheint ihnen als riesige Auster, und lianenartige Pflanzensekrete fesseln sie fester als jedes Seil. Trotzdem kommt die vermeintlich finale Volte des Plots völlig überraschend, und die allerletzte noch mehr.

 

Südsee-Fantasie als #metoo-Kommentar

 

Solch kunstvolles Drumherumlavieren um das Eine ist eben eine französische Spezialität; hierzulande ziehen Filme entweder blank oder bleiben züchtig bedeckt. Damit wird Mandicos liebevoll ausgetüftelte Südsee-Fantasie zum klugen und verführerisch sinnlichen Kommentar zur eindimensional verkopften #metoo-Debatte – Begehren entsteht im Auge des Betrachters.