Tuki Jencquel

Está todo bien – Alles ist gut

Ein altes Apothekerpaar schließt notgedrungen seinen Laden. Medikamente können sie schon lange nicht mehr verkaufen, es gibt keine mehr. Foto: deja vu Film
(Kinostart: 20.6.) Schwarzmarkt mit Restmedikamenten von Krebstoten: Venezuela leidet unter der Inkompetenz seiner korrupten Regierung. Die Folgen für das Gesundheitswesen dokumentiert Tuki Jencquel – leider recht wirr und ohne Kontext.

Ein bekanntes lateinamerikanisches Märchen lautet wie folgt. Es war einmal ein sehr reiches Land, das alles hatte, was Menschen brauchen: üppig fruchtbare Natur, angenehmes Klima und nie versiegende Ölquellen. Doch das Erdöl machte nur die Oberschicht reich, während viele kaum genug zum Leben hatten. So wählten sie einen energischen Mann, der versprach, alles zum Guten zu wenden.

 

Info

 

Está todo bien -
Alles ist gut

 

Regie: Tuki Jencquel,

70 Min., Venezuela/ Deutschland 2018;

mit: Rosalia Zola, Efraim Vegas, Francisco Valencia

 

Website zum Film

 

Er gab die Öleinnahmen mit vollen Händen aus; so entstand eine neue Klasse reicher Leute, und sogar bei den Armen kam etwas an. Doch als der Herrscher starb, wurde klar, dass der Wohlstand auf Sand gebaut war. Die Ölindustrie war marode, weil sie über Jahre nur geschröpft worden war; andere Erwerbsquellen gab es kaum. Viele Unzufriedene demonstrierten, der neue Herrscher ließ ihren Protest blutig niederschlagen. Seitdem geht es stetig bergab mit dem Land; das Märchen wird wohl kein gutes Ende nehmen.

 

Charisma + Privilegien-Vergabe

 

Hielt Präsident Hugo Chávez (1954-2013) das von ihm ab 1999 regierte Venezuela mit seinen scharfen sozialen Gegensätzen durch Charisma und Zuteilung von Privilegien noch notdürftig zusammen, brach unter seinem farblosen Nachfolger Nicolás Maduro endgültig eine schwere Krise aus. Seit Anfang des Jahres liefert er sich mit Oppositionsführer Juán Guaidó, der sich zum Staatschef ausrief, einen harten Machtkampf mit offenem Ausgang.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Tabletten über Facebook

 

Statt politischer Leistungen und Lösungen bietet die Regierung nur noch Durchhalte- und Beschwichtigungs-Parolen. Auf diese Desinformation der eigenen Bevölkerung spielt der Titel des Dokumentarfilms von Tuki Jencquel an: „Está todo bien – Alles ist gut“. Natürlich ist gar nichts gut.

 

Rosalia Zola war ihr Leben lang Apothekerin; nun kann sie ihren Kunden keine Medikamente mehr anbieten. Ihr bleibt nur übrig, ihr Geschäft zu schließen. Rebeca dos Santos und Mildred Varela laufen durch die Hauptstadt Caracas von Apotheke zu Apotheke in der Hoffnung, dringend benötigte Krebsmedikamente aufzutreiben. Doch das ist so gut wie aussichtslos. Mehr Erfolg versprechen soziale Netzwerke: Angehörige von verstorbenen Krebskranken geben mitunter nicht aufgebrauchte Medikamente weiter.

 

Ärzte-Import aus Kuba

 

Währendessen schmuggelt Francisco Valencia für eine Nichtregierungs-Organisation Arznei ins Land; gefährlich und zugleich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der junge Mediziner und politische Aktivist Efraim Vegas ist so wütend wie ohnmächtig: Da jede Ausstattung Mangelware ist, kann auch ärztliche Kunst kaum noch helfen. Überdies reicht das Gehalt nicht zum Leben; seine Berufskollegen gehen scharenweise ins Ausland.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Caracas, eine Liebe" - Schwulen-Drama aus Venezuela von Lorenzo Vigas, prämiert mit Goldenem Löwen 2015

 

und hier einen Bericht über den Film "Machines" - Dokumentation über Gesundheitsrisiken in indischen Textilfabriken von Rahul Jain

 

und hier einen Bericht über den Film "La Buena Vida - Das gute Leben" - Dokumentation über Umsiedlungsprojekt wegen Kohleabbau in Kolumbien

 

und hier einen Beitrag über den Film "Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln" – messerscharfer Medizin-Thriller über einen Zusammenbruch des Gesundheitswesens von Linus de Paoli.

 

Laut Schätzungen haben bis Anfang 2019 rund ein Drittel der Ärzte Venezuela verlassen. Dabei war der Aufbau einer flächendeckenden, kostenlosen medizinischen Versorgung ein wichtiges Anliegen unter Chávez. Dafür wurden in der ersten Hälfte der 2000er Jahre Tausende kubanische Ärzte ins Land geholt, die ihre venezolanischen Kollegen ausbilden sollten. Doch rund zehn Jahre später war das Programm gescheitert.

 

Gruppentherapie-Laientheater

 

Von solchen Hintergründen erzählt dieser Dokumentarfilm nichts. Das venezolanische Publikum ist damit sicher vertraut, doch hiesigen Zuschauern fehlt schlicht Kontextwissen. Anstatt das Gezeigte in größere Zusammenhänge einzuordnen, beschränkt sich Regisseur Tuki Jencquel auf die individuelle Perspektive seiner Protagonisten. Leider erfährt man viel zu wenig über sie, als dass sie den Film tragen könnten. Zudem beginnen und enden die meisten Szenen sehr unvermittelt, was den Eindruck von Orientierungslosigkeit noch verstärkt.

 

So fragt man sich etwa, was eine laientheaterhafte Inszenierung bedeuten soll, in der die Protagonisten gemeinsam ihre Befindlichkeiten auf einer Bühne ausdrücken. Das wirkt, als sei man Zeuge einer Gruppentherapie. Zwischen diese und andere Szenen werden immer wieder unmotiviert Drohnen-Aufnahmen von Caracas geschnitten, die mit bedrohlichen, elektronisch verzerrtem Klängen unterlegt sind.

 

Verbaler Schlagabtausch

 

In der Wirrnis dieses Bildersalats bleibt ein kurzer Moment im Gedächtnis hängen, in dem sich Parlaments-Abgeordnete und Ärzte-Vertreter voller Frustration gegenseitig anschreien – doch rasch wird wieder weggeblendet. So fällt der Erkenntnisgewinn gering aus: Dass ihr Leben in Venezuela derzeit für die meisten Menschen unerträglich ist, weiß man auch ohne diesen Film.