Michael Matthews

Five Fingers for Marseilles

Foto: Drop-Out Cinema eG
(Kinostart: 27.6.) Für eine Handvoll Finger mehr: Fünf schwarze Südafrikaner wollen ihren Wohnort mit Gewalt von Schurken befreien – erst vor, dann nach dem Ende der Apartheid. Im Stil von Italo-Western inszeniert Regisseur Michael Matthews ein düsteres Epos.

Es beginnt wie eine Art Schöpfungsmythos: „Zuerst kamen die Züge. Mit ihnen kamen die Siedler, und sie brachten ihre Städte mit. Und sie nannten es ihr Land. Uns, die wir schon dort waren, haben sie auf einen Hügel gesetzt, außer Sichtweite“, sagt eine raunende Stimme, während die Kamera über eine rotbraune Berglandschaft schwebt, um dann an Bahngleisen zu verharren.

 

Info

 

Five Fingers for Marseilles

 

Regie: Michael Matthews,

121 Min., Südafrika 2017;

mit: Vuyo Dabula, Hamilton Dhlamini, Zethu Dlomo

 

Weitere Informationen

 

Nicht nur die Anfangsszene von „Five Fingers for Marseilles“ und das Thema der Landnahme deuten auf einen Western, sondern auch die folgende Duell-Szene. Regisseur Michael Matthews hat sie gleichfalls so inszeniert, dass sie mit den Klassikern des Genres, etwa „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) von Sergio Leone mit Clint Eastwood, durchaus mithalten kann. Zuerst sind alle vier Beteiligten zu sehen; sie stehen aufeinander ausgerichtet im Quadrat. Dann folgen close ups auf die einzelnen Gesichter, stirngerunzelt und entschlossen, sowie auf Hände gefährlich nah an den Waffen.

 

Keine Colts, sondern Zwillen

 

Sobald es scheint, als würde „Five Fingers for Marseilles“ die Genre-Klischees übererfüllen, bricht der Film mit ihnen. Die Duellanten sind keine vernarbten Revolverhelden, sondern Kinder. Sie reiten keine Pferde, sondern fahren BMX-Räder. Sie halten keine Handfeuerwaffen in den Händen, sondern selbstgebaute Zwillen, und hören auf die Spitznamen „Cockroach“ („Kakerlake“), „Pockets“, „Pastor“ und „Lion“ („Löwe“). Zusammen mit dem Mädchen Lerato sind sie die fünf Finger von Marseilles, eine Jugendbande selbsternannter Freiheitskämpfer.

Offizieller Filmtrailer OV mit engl. Untertiteln


 

Outlaw wie Clint Eastwood

 

Ihr Heimatort, der ähnlich wie die französische Hafenstadt heißt, ist eine kleine shanty town, also informelle Siedlung, in Südafrika. In diesem Film wirkt sie noch wüstenhafter als in Wirklichkeit. Dort schwört das Quintett, ihre Gemeinde endlich aus den Fängen korrupter Polizisten zu befreien; sie sind den Buren nachempfunden, also den Nachkommen der niederländischen Kolonisten. 

 

Eines Tages macht „Lion“ Tau ernst und erschießt zwei Polizisten. Danach muss er flüchten; er kommt erst 20 Jahre später zurück. Doch nun ist nichts mehr so wie zuvor. Südafrika ist zwar befreit, wie das von Störgeräuschen verrauschte Radio verkündet, aber in Marseilles herrscht weiterhin Korruption und Armut. Tau (Vuyo Dabula) kehrt nicht als glorreicher Held wieder, sondern als Outlaw, dessen eisgekühlte Mimik der von Clint Eastwood ähnelt.

 

Zerstörungswut ohne Motive

 

Auch sonst hält sich Dabula an die Regeln im Genre-Lehrbuch: Er ist brutal, aber gerecht, nennt sich „Niemand“, sagt praktisch kein Wort – und hat im Gegensatz zu allen Anderen noch einen Rest an Moral und Ehrgefühl. Er  ist entschlossen, Marseilles abermals zu befreien: diesmal nicht von der Herrschaft der Weißen, sondern vom Terror einer skrupellosen Gang.

 

Ihr einäugiger Boss Sepoko (genial flamboyant: Hamilton Dhlamini) frönt – wenn er nicht gerade kryptisches Zeug daherredet – zusammen mit seinen finsteren Kameraden einer sinnlosen Mord- und Zerstörungswut, deren Motive unklar bleiben. Diese Wut lebt die Gang in der zweiten Filmhälfte exzessiv aus, was am Ende in einem ziemlich langatmigen shoot out kulminiert – und genauso ermüdet wie der fehlende Rhythmus in der durchhängenden Mitte des Filmes. In ihr wird die Geschichten der anderen nun erwachsenen Finger unnötig lang und substanzarm erzählt.

 

Füße, die Staub aufwirbeln

 

Die eindrucksvoll düstere Atmosphäre bleibt hingegen immer präsent. In dieser schwarzweißen Welt ist kein Platz für Grautöne und zärtliche Gesten; sie ist scharf geteilt in oben und unten, die Sphäre der wenigen Reichen und die der vielen Unterdrückten – oft dargestellt in Einstellungen von Füßen, die Staub aufwirbeln. Ihre hilflose Ameisenperspektive kann selbst die gelegentlich eingesetzte Vogelperspektive auf weite Berglandschaften nicht mildern. Dem tödlichen Schicksal von fremder Hand, sagen diese Bilder, entkommt niemand.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Wunde" - beeindruckendes Homophobie-Drama aus Südafrika von John Trengrove

 

und hier einen Bericht über den Film "Zulu" – fesselnder Medizin-Politthriller aus Südafrika von Jérôme Salle mit Forest Whitaker

 

und hier einen Beitrag über den Film "Mandela - Der lange Weg zur Freiheit"  - episches Biopic über Südafrikas Freiheitshelden Nelson Mandela von Justin Chadwick mit Idriss Elba.

 

Das Thema der Landnahme lässt sich als Allegorie auf die Apartheid in Südafrika und zugleich auf die Zeit seit ihrer offiziellen Abschaffung 1994 auffassen. Zuvor waren 85 Prozent der Landesfläche für Weiße reserviert, obwohl sie nur 17 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Trotz diverser Landreformen sind immer noch 72 Prozent aller Ländereien im Besitz von Weißen.

 

Jährlich 20.000 Morde

 

Während die subtile Kritik des Films an postkolonialen Zuständen durchaus treffend erscheint, wirkt sein Frauenbild rückständig. Ist es bei allem Respekt für die Treue zur Binnenlogik des Genres wirklich nötig, Frauen lediglich als gefühlig Weinende zu zeigen? Selbst als Lerato (Zethu Dlomo) – ohnehin die einzige Frau im Film, die spricht – eines Tages Gewalt anwendet, ist sie sichtlich erschüttert, während die Männer beim Töten fast nie eine Mine verziehen. Doch es ist wohl gerade das Beharren von Regisseur Matthews auf der Allgegenwart von Patriarchat und schreiender Ungerechtigkeit, das sein Spielfilmdebüt realistisch werden lässt.

 

Tödliche Gewalt ist in Südafrika alltäglich: Jedes Jahr werden dort rund 20.000 Menschen ermordet. Neben gewöhnlicher Kriminalität zählen dazu neuerdings auch organisierte Morde an weißen Farmern – als radikale Auswüchse der Kampagne für „Enteignung ohne Entschädigung“, welche die linke „Economic Freedom Fighters“-Partei immer lautstärker fordert. Wie sinnlos diese Gewalt wütet, ist hier schmerzhaft mitzuerleben – so wird ein nationales Trauma anschaulich, das noch lange nicht überwunden ist.