
Die Staatlichen Museen zu Berlin (SMB) werden oft gescholten, sie agierten planlos, seien von internen Rivalitäten gelähmt und daher wenig innovativ – häufig zurecht. Doch nun haben die SMB ein faszinierend attraktives Ausstellungsformat ausgebrütet; es hat das Zeug, den internationalen Kunstbetrieb zu revolutionieren: die Ein-Gemälde-Ausstellung!
Info
Gustave Caillebotte - Maler und Mäzen der Impressionisten
17.05.2019 - 19.09.2019
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Alten Nationalgalerie, Bodestraße 1-3, Berlin
Katalog 22 €
Aus der Sammlung in die Sonderschau
Folglich veranstalten immer mehr Museen Sonderschauen mit Arbeiten aus eigenem Bestand: Ihre Beschaffung kostet nichts; Wandtexte und Katalog – falls es überhaupt einen gibt – nur wenig. Sind Thema oder Konzept originell, können durchaus interessante Ausstellungen zustande kommen. Allerdings mit einem Nachteil für Kunstliebhaber, die öfter ins Museum gehen: Ihnen sind die meisten Exponate längst geläufig – sie hängen normalerweise in der ständigen Sammlung.
Interview mit Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann + Impressionen der Ausstellung
Blickfang an der Saal-Stirnwand
Nun verknüpfen die SMB die Vorteile einer preiswerten hauseigenen Schau mit dem Reiz eines zugkräftigen Blickfangs: Die Ausstellung in der Alten Nationalgalerie dreht sich um ein einziges Bild. „Straße in Paris, Regenwetter“ (1877) ist ein Hauptwerk des Impressionisten Gustave Caillebotte (1848-1894) – und mit Maßen von gut zwei mal fast drei Metern eines der größten Tafelbilder aus der Frühphase dieser Stilrichtung. Es füllt alleine die Saal-Stirnwand; ein idealer eye catcher! Dazu braucht es nicht mehr viel, meint das Museum: Im Kabinett dahinter finden sich zwei kleinformatige Ölstudien und acht schlichte Zeichnungen. Mehr Caillebotte ist nicht zu sehen.
Kein Wunder: Dieses Arrangement ist eine Art Nebenprodukt des Verleih-Karussells. Das „Art Institute of Chicago“ hat von den SMB Édouard Manets großes Gemälde „Im Wintergarten“ entliehen – im Gegenzug kommt der kapitale Caillebotte zeitweise nach Berlin. Der Unterschied ist jedoch: Das Art Institute organisiert eine umfassende Manet-Werkschau; die Alte Nationalgalerie begnügt sich mit einer Leinwand und ein paar Archivalien. Denn sie hat keine Werke von Caillebotte und will offenbar auch keine heranschaffen.
Kein Caillebotte-Transport aus Potsdam
Möglich wäre das schon am Stadtrand: Der SAP-Mitgründer und Multimilliardär Hasso Plattner sammelt eifrig Impressionisten. Er besitzt auch Bilder von Caillebotte, die in seinem 2017 eröffneten Museum Barberini in Potsdam bereits gezeigt wurden. Ihre Überführung nach Berlin-Mitte sollte selbst für die SMB bezahlbar sein; oder Plattner spendiert es aus seiner Portokasse. Doch das scheitert vermutlich an atmosphärischen Störungen zwischen der altehrwürdigen staatlichen Einrichtung und dem neuen privaten Konkurrenten im Vorort.
Wobei „Straße in Paris, Regenwetter“ neben „Die Parkettschleifer“ (1875) nicht nur Caillebottes wichtigstes Werk ist, sondern auch epochemachend: Erstmals wurde das nagelneue Paris der Bürgerpaläste und Boulevards, das Baron Haussmann im Zweiten Kaiserreich angelegt hatte, so monumental ins Bild gerückt – und so vielschichtig.
Doppel-Retrospektive wird suggeriert
Rechts kommt ein fast lebensgroßes Paar auf den Betrachter zu, andere Gestalten veranschaulichen verschiedene Phasen des Gehens, eine Gaslaterne teilt die Leinwand in Vorder- und Hintergrund, die dynamischen Fluchtlinien der Gebäude und Straßen saugen den Blick förmlich ins Bild. Flüchtigkeit und Unruhe des modernen Lebens sind wie in einer Momentaufnahme perfekt eingefangen. Kein Zweifel: Es lohnt sich, diese Darstellung ausgiebig zu studieren.
Nicht das Gemälde ist das Problem, sondern der Ausstellungstitel. „Gustave Caillebotte – Maler und Mäzen der Impressionisten“ suggeriert eine Retrospektive über einen lange vernachlässigten Akteur, und zwar in seiner Doppelrolle: als Künstler und Gönner. Letztere war sehr wichtig: Durch Erbschaft reich, unterstützte Caillebotte großzügig etliche Kollegen, engagierte sich maßgeblich bei den ersten Impressionisten-Ausstellungen, legte eine umfangreiche Bilder-Sammlung an und vermachte sie dem französischen Staat. Sein Nachlass bildete den Grundstock der Impressionismus-Kollektion im heutigen Musée d’Orsay.
Platzhalter oder googeln
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Impressionismus – Die Kunst der Landschaft" - mit Werken von Gustave Caillebotte im Museum Barberini, Potsdam
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Pissarro – Der Vater des Impressionismus" im Von Der Heydt-Museum, Wuppertal
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Manet – Sehen: Der Blick der Moderne" – hervorragende Werkschau über Édouard Manet in der Hamburger Kunsthalle
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Monet und die Geburt des Impressionismus" - im Städel Museum, Frankfurt am Main
Eine wirklich bahnbrechende Neuerung: Diese Schau verabschiedet den altmodischen Anspruch, tatsächlich vorzuführen, was sie zeigen will – ähnlich aussehende Stellvertreter oder Platzhalter genügen ihr. Alles hängt doch mit allem zusammen, die Welt ist ein unendliches Referenzsystem, nicht wahr? Falls Ihnen das nicht reichen sollte: Googeln Sie doch einfach seine Bilder!
Sonderpräsentation vs. Ausstellung
Wird das als Etikettenschwindel kritisiert, helfen zwei Gegenstrategien. Die Presseabteilung spielt das als „Sonderpräsentation“ herunter, für die kein zusätzlicher Eintritt verlangt werde. Das stimmt; zudem bieten Großmuseen regelmäßig kleine Kabinettschauen zu diversen Anlässen.
Doch auf den stadtweit geklebten Reklame-Plakaten prangt das Wort „Ausstellung“; überdies haben die finanzstarken „Freunde der Nationalgalerie“ ihr eine prächtige Website mit ausführlichem Werbetext „Über die Ausstellung“ spendiert. So mancher Berlin-Tourist dürfte nur diese Schau besuchen wollen, ein reguläres Ticket lösen – und arg enttäuscht werden. Vor allem Kunstfreunde aus Chicago.
Fetischisierung wie bei Mona Lisa
Die andere Gegenstrategie wählt Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann. Er preist „Straße in Paris, Regenwetter“ als absolutes Meisterwerk vom Rang der „Mona Lisa“; man möge es mit derselben Andacht bewundern. Das eröffnet dem Museumsbetrieb neue Dimensionen: Nach diesem Muster lassen sich viele Ölschinken zur verehrungswürdigen Kunst-Offenbarung hochjubeln – würden Ein-Gemälde-Ausstellungen zum Standard, wäre der lästige Leihverkehr passé.
Zumal das Publikum im ausufernden Kulturevent-Zirkus allmählich die Orientierung zu verlieren droht: Gegen Beliebigkeit hilft Fetischisierung – this is the best, forget the rest! Was Berlin vorzüglich beherrscht; etwa beim weltbesten Techno-Tempel Berghain, dem Checkpoint Charlie als vermeintlich zentralem Brennpunkt im Kalten Krieg und „Mustafas Gemüse-Kebab“ am Mehringdamm als angeblich leckerstem Döner-Bräter. Muss man gesehen und gekostet haben.