Vahid Jalilvand

Eine moralische Entscheidung (No Date, No Signature)

Amirs Vater Moosa (Navid Mohammadzadeh) findet im Schlachthof verdorbene Hühner. Foto: © Noori Pictures. Fotoquelle: © kinofreund eG 2019
(Kinostart: 20.6.) Geteilte Schuld ist doppelte Schuld: Einen Mediziner plagt der Verdacht, er habe den Tod eines Jungen verursacht – der zuvor vergiftet worden war. Das Sühne-Drama des iranischen Regisseurs Vahid Jalilvand ist visuell schlicht, aber inhaltlich vielschichtig.

Das kann dem besten Autofahrer passieren: Der Gerichtsmediziner Kaveh Nariman (Amir Agha’ee) wird auf einer Schnellstraße abgedrängt und touchiert ein Moped, das im Straßengraben landet. Der vierköpfigen Familie von Moosa (Navid Mohammadzadeh) ist nichts passiert; nur ihr achtjähriger Junge Amir hat offenbar ein paar Schürfwunden abbekommen. Moosa nimmt Geld von Kaveh, bringt seinen Sohn aber nicht ins Krankenhaus.

 

Info

 

Eine moralische Entscheidung (No Date, No Signature)

 

Regie: Vahid Jalilvand,

104 Min., Iran 2017

mit: Navid Mohammadzadeh, Amir Agha’ee, Hediyeh Tehrani

 

Website zum Film

 

Am nächsten Morgen holt Kaveh wie üblich seine Kollegin Sayeh Behbahani (Hediyeh Tehrani) ab; sie fahren gemeinsam zur Arbeit. Rasch wird deutlich, dass beide ihre Aufgaben gewissenhaft erledigen und Verantwortung sehr ernst nehmen – auch bei Konflikten mit Ermittlungsbehörden. An diesem Tag wird auch die Leiche des achtjährigen Amir eingeliefert. Sayeh obduziert ihn; sie diagnostiziert als Todesursache eine Fleischvergiftung, was sie den Eltern schonend beibringt.

 

Gammelfleisch im Schlachthof

 

Daraufhin macht Moosas Frau Leila ihrem Mann bittere Vorwürfe: Er selbst habe sein Kind mit verdorbenem Fleisch umgebracht. Tatsächlich hatte Moosa billiges Huhn bei einem Schwarzmarkt-Verkäufer erstanden. Rasend vor Wut tobt er durch den Schlachthof, in dem der Mann arbeitet, und findet vergammeltes Geflügel, bevor man ihn hinauswirft. Nach einer Weile kehrt Moosa zurück, um sich am Verkäufer zu rächen, wobei dieser in einen Schacht fällt; wenig später erliegt er seinen Verletzungen. Moosa wird inhaftiert.

Offizieller Filmtrailer


 

Scherbenhaufen aus Nachlässigkeiten

 

Die Sache scheint eindeutig zu sein – aber nicht für Kaveh, der sich vorwirft, bei dem Jungen eventuell eine Kopfverletzung übersehen zu haben. Er vertraut sich Sayeh an, die abwiegelt: Das Opfer wäre in jedem Fall binnen weniger Tage an seiner Vergiftung gestorben. Das beruhigt Kaveh nicht; er besucht Moosa im Gefängnis und gesteht ihm ein, möglicherweise habe der Junge die Unfallfolgen nicht überlebt. Zudem erwirkt er eine Exhumierung der Leiche und nimmt eine zweite Autopsie vor; sie kann seine Zweifel nicht beseitigen.

 

Seinen zweiten Spielfilm legt der iranische Regisseur Vahid Jalilvand als komplexes Schuld-und-Sühne-Drama an. Eine alltägliche Begebenheit verwandelt sich durch wenige Szenen an gewöhnlichen Schauplätzen in ein vertracktes Netzwerk aus ambivalenten Beziehungen; geknüpft aus bedächtig geführten Dialogen, in denen Ungesagtes genauso wichtig ist wie Ausgesprochenes. Kein Protagonist führt Böses im Schilde, im Gegenteil: Alle wollen das Richtige tun, erlauben sich aber kleine Nachlässigkeiten – im Nu türmt sich ein Scherbenhaufen auf.

 

Wie Ingmar Bergman + Neorealismus

 

Solch moralischer Rigorismus, der jede Aussage und Handlung auf ethische Konsequenzen abklopft, ist kennzeichnend für den zeitgenössischen Autorenfilm im Iran; als hätten seine Regisseure minutiös Ingmar Bergman und den italienischen Neorealismus studiert. Dieses Kino der 1950/60er Jahre behandelte Ängste, Lügen und Tabus von Menschen, die das Grauen des Weltkriegs erlebt und erlitten hatten; von Spaßgesellschaft keine Spur. Offenbar betrachten manche iranischen Nachfolger ihre heutige Lage ähnlich: in einer international isolierten Halbdiktatur voller Korruption, Doppelmoral und unerfüllten Sehnsüchten.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "A Man of Integrity – Kampf um die Würde" - komplexes iranisches Korruptions-Drama von Mohammad Rasoulof

 

und hier eine Besprechung des Films "Drei Gesichter" - gelungen vielschichtiges Road-Movie in der iranischen Provinz von Jafar Panahi

 

und hier einen Bericht über den Film "The Salesman" - fesselndes Vergewaltigungs-Ehedrama im Iran von Asghar Farhadi

 

und hier einen Beitrag über den Film "Jahreszeit des Nashorns" – brillantes Polit-Psychodrama über Exil-Iraner in der Türkei von Bahman Ghobadi.

 

Obwohl sie in fast jeder Minute zu sehen ist, bleibt die Hauptfigur rätselhaft: Warum wird der Gerichtsmediziner von Gewissensbissen zermürbt? Rein rechtlich steht fest: Sein einziges Vergehen war, nach der Kollision nicht die Polizei gerufen zu haben – weil seine Autoversicherung abgelaufen war, wie sich herausstellt. Doch Kaveh kann sich nicht verzeihen; trotz des Umstands, dass sein zuvor vergiftetes Opfer ohnehin todgeweiht war.

 

Legitimität durch Verfahren

 

Wohnte er 4000 Kilometer weit im Nordwesten, würde man sagen: ein Fall von erzprotestantischer Selbstbezichtigung. Aber weswegen? Nachvollziehbarer ist Moosas Handeln: Der arme Slumbewohner ergreift jede Gelegenheit – ein Schnäppchen oder Schweigegeld –, ohne langfristige Folgen zu bedenken. Oder auch die Chance, dem Gegner aus seiner Seelengröße einen Strick zu drehen: Er zerrt Kaveh nach dessen Geständnis vor Gericht.

 

Die kurze Verhandlung ist für westliche Augen einer der aufschlussreichsten Momente: Sie führt vor, wie geordnet es im Iran bei Zivilprozessen zugeht – Legitimität durch Verfahren. Ähnliche Aha-Erlebnisse bieten weitere Passagen; angefangen vom schaurig kahlen Irrgarten aus Betonrampen für den Verkehr in der Megametropole Teheran bis zur Ausstattung von Kliniken und Arztpraxen. Auch daheim verfügt Kaveh über ein elektrisch stufenlos verstellbares Hightech-Bett; für seine schwerkranke Mutter. Trotz der seit vielen Jahren geltenden Sanktionen hält der Iran offenbar mit der technischen Entwicklung Schritt.

 

Bitte entscheiden Sie!

 

Ohne große Schauwerte und mit geruhsam ablaufender Szenenfolge wird dieser Film dennoch zu einem vielschichtigen Seherlebnis; für hiesige Zuschauer wohl noch mehr als für das iranische Publikum. Wobei Regisseur Jalilvand alle Fragen nach Schuld und Verantwortung kunstvoll in der Schwebe hält, bis zum letzten Schnitt: Wie würden Sie entscheiden?