Carlos Reygadas

Nuestro Tiempo

Esther (Natalia Lopez) ist die Managerin von Farm und Familienleben. Ihr Mann gestattet ihr großzügig außereheliche Beziehungen. Foto: © Grandfilm 2019
(Kinostart 27.6.) Machismo trifft Überspanntheit: Der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas verhandelt große Fragen – Liebe, Leben, Vergänglichkeit – anhand einer visuell sehr eindrucksvoll inszenierten, aber im Kern konventionellen Dreiecksbeziehung.

Es gibt Filme, die sollte man nur im Kino sehen. Einfach, weil es diesen dunklen, konzentrierten Raum braucht, um sich auf sie einzulassen. „Nuestro tiempo“ ist so ein Fall. Die epischen Bilder zelebrieren in langen Einstellungen die Schönheit und Abgründigkeit des Lebens.

 

Info

 

Nuestro Tiempo

 

Regie: Carlos Reygadas,

175 Min., Mexiko/ Frankreich/ Deutschland 2018;

mit: Carlos Reygadas, Natalia López, Phil Burgers

 

Weitere Informationen

 

Ein unendlicher Himmel wölbt sich über einer weiten, staubigen Ebene, an deren Horizont spitze Berge aufscheinen. Die Landschaft wird bevölkert von Stieren, Pferden und Menschen, die auch in unserer Gegenwart ihren Bezug zur Natur nicht verloren haben. Hier, in der Nähe von Mexiko-Stadt, lebt der erfolgreiche Dichter und Kampfstierzüchter Juan (Carlos Reygadas) mit seiner schönen Frau Ester (Natalia Lopez) und drei Kindern. Verkörpert werden sie nicht von professionellen Schauspielern, sondern vom Regisseur selbst – und seiner Familie.

 

Kontrolle vs. Freiheit

 

Eine offene Beziehung scheint Juan und Ester der Garant dafür, dass ihre Liebe und tiefe Verbundenheit hält. Dieses Arrangement gerät ins Wanken, als Ester sich ernsthaft in den Pferdezureiter Phil (Phil Burgers) verliebt. Auch wenn das seinen Vorsätzen zuwider läuft: Juan erliegt seiner Eifersucht und will Esters Gefühlsleben kontrollieren. Der ewige Zwiespalt zwischen Liebe und Sex, zwischen Kontrolle und Freiheit tut sich auf.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Gefühle aus dem Off

 

In schonungslos offenen Monologen und Gesprächen werden die feinsten Verästelungen des Seelenlebens der Figuren erkundet. So tauschen sich Phil und Juan in langen Mails über ihre Gefühle für Ester aus. An einer anderen Stelle gewährt ein von einem Kind vorgelesener Text tiefe Einblicke in Juans Innerstes. Und während die Kamera einen Landeanflug auf die nächtliche Stadt zeigt, offenbart Ester aus dem Off ihre widerstreitenden Gefühle.

 

Die Grundkonstellation hat bei aller ausgestellten Modernität etwas Altmodisches: Eine attraktive Frau steht zwischen zwei äußerlich unscheinbaren Männern. Er ist der Kreative mit Machoattitüden, sie die zur Überspanntheit neigende Familienmanagerin. Ihre Libido lässt sie offenbar schnell in fremde Betten hüpfen. In der Figur des Juan kondensieren männliche Projektionen, aber auch Ängste: Er ist ein bewunderter Intellektueller, der durchaus auch zupacken kann. Und zudem eine tolle Frau und ein erfülltes Liebesleben hat. Das alles hilft ihm am Ende jedoch wenig.

 

Formsprengend an die Essenz

 

Hintergrund

 

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Neben dieser Hauptgeschichte nimmt sich Reygadas in seinem dreistündigen Werk viel Zeit für anderes: für die Beobachtung der am Fluss spielenden Kinder, für Jugendliche bei ihren ersten Flirtversuchen oder ein mitreißendes Paukenkonzert. Man beobachtet Cowboys im beiläufigen Gespräch und immer wieder imposante Stiere. Banale Alltäglichkeiten wie ein am Handy durchgegebenes Kochrezept stehen neben quälenden Seelenentblößungen.

 

Der mexikanische Regisseur ist für wagemutige, formsprengende Arbeiten bekannt, die das Publikum herausfordern und großes Kritikerinteresse hervorrufen, wie etwa im Fall seines kontemplativ angelegten und seinerzeit kontrovers diskutierten „Battle in Heaven“ (2005). So verlangt auch Reygadas fünfter Langfilm ein gehöriges Maß an Geduld und Offenheit. Schließlich will „Nuestro tiempo“ mehr sein als eine Beziehungsanalyse. Mit all diesen rauen, Mescal trinkenden Cowboys, den verführerischen Frauen und der archaischen Landschaft soll nicht weniger als die Essenz des Lebens eingefangen werden.

 

Maximale Aufladung

 

In den Szenen, in denen der Film seinen herausragenden Bildkompositionen den Raum überlässt, gelingt das sogar – gerade, weil er sich da von der Beziehungsgeschichte löst, in der viel eitle Selbstbespiegelung mitschwingt. Dann scheint in den im Gegenlicht eingefangenen Sonnenflecken wirklich eine Ahnung von Ewigkeit auf. Überhaupt spielt Licht hier eine zentrale Rolle, es umschmeichelt Mensch und Tier geradezu. Diese Momente kontrastieren mit statischen Szenen, die sich scheinbar endlos lang im Halbdunkel hinziehen.

 

Der Kameramann Diego Garcia sucht immer wieder neue, ungewohnte Perspektiven. Viele Bilder sind allegorisch maximal aufgeladen. Der brutale Kampf zweier Stiere etwa spiegelt offenbar das verzweifelte Ringen des Paares miteinander. Und Leben und Vergänglichkeit lassen sich gar nicht ohne einander denken. Das ist keine neue Erkenntnis; im geschäftigen Alltag geht sie trotzdem oft verloren. Dieser Film wirkt als probates Gegenmittel.