Es gibt Filme, die sollte man nur im Kino sehen. Einfach, weil es diesen dunklen, konzentrierten Raum braucht, um sich auf sie einzulassen. „Nuestro tiempo“ ist so ein Fall. Die epischen Bilder zelebrieren in langen Einstellungen die Schönheit und Abgründigkeit des Lebens.
Info
Nuestro Tiempo
Regie: Carlos Reygadas,
175 Min., Mexiko/ Frankreich/ Deutschland 2018;
mit: Carlos Reygadas, Natalia López, Phil Burgers
Kontrolle vs. Freiheit
Eine offene Beziehung scheint Juan und Ester der Garant dafür, dass ihre Liebe und tiefe Verbundenheit hält. Dieses Arrangement gerät ins Wanken, als Ester sich ernsthaft in den Pferdezureiter Phil (Phil Burgers) verliebt. Auch wenn das seinen Vorsätzen zuwider läuft: Juan erliegt seiner Eifersucht und will Esters Gefühlsleben kontrollieren. Der ewige Zwiespalt zwischen Liebe und Sex, zwischen Kontrolle und Freiheit tut sich auf.
Offizieller Filmtrailer OmU
Gefühle aus dem Off
In schonungslos offenen Monologen und Gesprächen werden die feinsten Verästelungen des Seelenlebens der Figuren erkundet. So tauschen sich Phil und Juan in langen Mails über ihre Gefühle für Ester aus. An einer anderen Stelle gewährt ein von einem Kind vorgelesener Text tiefe Einblicke in Juans Innerstes. Und während die Kamera einen Landeanflug auf die nächtliche Stadt zeigt, offenbart Ester aus dem Off ihre widerstreitenden Gefühle.
Die Grundkonstellation hat bei aller ausgestellten Modernität etwas Altmodisches: Eine attraktive Frau steht zwischen zwei äußerlich unscheinbaren Männern. Er ist der Kreative mit Machoattitüden, sie die zur Überspanntheit neigende Familienmanagerin. Ihre Libido lässt sie offenbar schnell in fremde Betten hüpfen. In der Figur des Juan kondensieren männliche Projektionen, aber auch Ängste: Er ist ein bewunderter Intellektueller, der durchaus auch zupacken kann. Und zudem eine tolle Frau und ein erfülltes Liebesleben hat. Das alles hilft ihm am Ende jedoch wenig.
Formsprengend an die Essenz
Hintergrund
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Der mexikanische Regisseur ist für wagemutige, formsprengende Arbeiten bekannt, die das Publikum herausfordern und großes Kritikerinteresse hervorrufen, wie etwa im Fall seines kontemplativ angelegten und seinerzeit kontrovers diskutierten „Battle in Heaven“ (2005). So verlangt auch Reygadas fünfter Langfilm ein gehöriges Maß an Geduld und Offenheit. Schließlich will „Nuestro tiempo“ mehr sein als eine Beziehungsanalyse. Mit all diesen rauen, Mescal trinkenden Cowboys, den verführerischen Frauen und der archaischen Landschaft soll nicht weniger als die Essenz des Lebens eingefangen werden.
Maximale Aufladung
In den Szenen, in denen der Film seinen herausragenden Bildkompositionen den Raum überlässt, gelingt das sogar – gerade, weil er sich da von der Beziehungsgeschichte löst, in der viel eitle Selbstbespiegelung mitschwingt. Dann scheint in den im Gegenlicht eingefangenen Sonnenflecken wirklich eine Ahnung von Ewigkeit auf. Überhaupt spielt Licht hier eine zentrale Rolle, es umschmeichelt Mensch und Tier geradezu. Diese Momente kontrastieren mit statischen Szenen, die sich scheinbar endlos lang im Halbdunkel hinziehen.
Der Kameramann Diego Garcia sucht immer wieder neue, ungewohnte Perspektiven. Viele Bilder sind allegorisch maximal aufgeladen. Der brutale Kampf zweier Stiere etwa spiegelt offenbar das verzweifelte Ringen des Paares miteinander. Und Leben und Vergänglichkeit lassen sich gar nicht ohne einander denken. Das ist keine neue Erkenntnis; im geschäftigen Alltag geht sie trotzdem oft verloren. Dieser Film wirkt als probates Gegenmittel.