László Nemes

Sunset

Irisz (Juli Jakab) im Hutmacher-Geschäft. Foto: © Laokoon Filmgroup - Playtime Production 2018
(Kinostart: 13.6.) Kopflastig verschwommener Kostümschinken: Oscar-Preisträger László Nemes scheucht eine Waise 1913 durch Budapest. Indem er Stilmittel seines Lehrmeisters Béla Tarr verramscht, gelingt ihm ein Historien-Porno mit garantiertem Schockeffekt.

László Nemes hat alles richtig gemacht. Der heute 42-jährige Ungar brach 2007 sein Filmstudium in New York ab, um Assistent seines Landsmanns Béla Tarr bei dessen Film „A Man from London“ zu werden. Das eigenwillige Genie hat in nur einer Handvoll Langfilme eine der markantesten Regie-Handschriften unserer Epoche ausgebildet: Tarrs düstere, schwarzweiße Parabeln mit vieldeutiger Handlung in hypnotisch langen Einstellungen einer schwebenden steadycam zählen zu den intensivsten Erfahrungen im zeitgenössischen Kino.

 

Info

 

Sunset

 

Regie: László Nemes,

142 Min., Ungarn/ Frankreich 2018;

mit: Juli Jakab, Vlad Ivanov, Susanne Wuest

 

Weitere Informationen

 

Nemes war ein gelehriger Schüler; nach drei Kurzfilmen drehte er 2015 sein Spielfilmdebüt. „Son of Saul“ zeigt 36 Stunden im Leben eines jüdischen KZ-Häftling in Auschwitz 1944; dabei hängt die Kamera zwei Stunden lang vor oder hinter dem Kopf des Protagonisten, während alles Übrige nur verschwommen zu sehen ist. Samt Szenen in einer Gaskammer – dieser Tabubruch wurde von vielen als pietätlos und obszön kritisiert. Das könnte ein Grund sein, warum der Film in Deutschland wenig Zuschauer fand.

 

Auslands-Oscar 2016 für „Son of Saul“

 

Dennoch gewann Nemes mit „Son of Saul“ den Auslands-Oscar 2016 für den besten fremdsprachigen Spielfilm. Nicht wirklich erstaunlich: Wie in der US-Filmindustrie insgesamt sind auch überproportional viele Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences jüdisch. Daher haben Filme mit NS- und Totalitarismus-Thematik gewöhnlich gute Chancen, was auch den Auslands-Oscar 2007 für das deutsche Stasi-Drama „Das Leben der Anderen“ erklären dürfte.

Offizieller Filmtrailer


 

Thronfolger beehren Hutmacher

 

Nun legt Nemes sein erstes Werk nach der Top-Auszeichnung vor. „Sunset“ soll eine Hommage an den Klassiker „Sunrise“ („Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen“, 1927) von F.W. Murnau sein, hat aber mit dessen Schuld-und-Sühne-Handlung wenig zu tun. Stattdessen will der Regisseur die untergründig explosive Stimmung in Ungarn vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einfangen. Die zartgliedrige Waise Irisz Leiter (Juli Jakab) kommt 1913 nach Budapest, um als Hutmacherin für das Geschäft zu arbeiten, das früher ihren Eltern gehörte.

 

Der jetzige Besitzer Oszkar Brill (Vlad Ivanov) weist sie erst hochmütig ab, um sich ihrer wenig später schuldbewusst anzunehmen; wie die meisten Akteure trägt er tragische Geheimnisse mit sich herum. So wird Irisz Zeugin der umständlichen Vorbereitungen für einen Besuch des Thronfolger-Paars im Geschäft, damit die Erzherzogin (Susanne Wuest) kühnste Kopfbedeckungs-Kreationen auswählen kann. Zugleich sucht die Waise nach ihrem Bruder, der in dunkle Machenschaften verstrickt ist.

 

Wie in recycelter Western-Kulissenstadt

 

Dieser kurze Abriss ist deutlich klarer als das, was der Regisseur knapp zweieinhalb Stunden lang dem Publikum zumutet. Vom Vorgängerfilm übernimmt Nemes sein Erfolgsrezept, an der Hauptfigur zu kleben; das rehäugige Antlitz von Juli Jakab füllt ununterbrochen die Leinwand. Was sich als abwegige Bildsprache für einen Historienfilm voller aufwändig gefertigter Kostüme erweist: Da von Zylinderträgern und Kutschen ohnehin nur Umrisse erkennbar sind, hätte Nemes dafür eine Western-Kulissenstadt recyceln können. Vielleicht hat er das auch.

 

Um seine artifizielle Parabel zu beleben, greift der Regisseur auf ein Stilmittel seines Lehrmeisters zurück – den plötzlichen Einbruch archaischer und anarchischer Gewalt. Allerdings hatte Béla Tarr solch dramatischen Umschwünge stets geduldig und minutiös vorbereitet: durch so rätselhafte wie bedrohliche Details, die sich zusehends verdichten, bis sich die kritische Masse in einer Eruption entlädt. Dagegen lässt Nemes reichlich unmotiviert alles in Flammen aufgehen und Scharen von Komparsen schreiend durchs Bild laufen, als würden Wirrköpfe mit Bomben wie Feuerwerk um sich werfen.

 

Vormoderner Moritatensänger

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Turiner Pferd - A Torinói Ló" - brillante Apokalypse-Allegorie von Béla Tarr, prämiert mit dem Silbernen Bären 2011

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Werckmeisterschen Harmonien" - faszinierende Parabel über Anarchie + Autoritarismus von Béla Tarr mit Lars Rudolph + Hanna Schygulla

 

und hier einen Beitrag über den Films "Körper und Seele" - betörendes Liebesfilm-Märchen im Schlachthaus-Milieu von Ildikó Enyedi, Berlinale-Gewinner 2017

 

und hier einen Bericht über den Film "Jupiter's Moon" - visuell beeindruckende +inhaltliche unausgegorene Erlöser-Parabel von Kornél Mundruczó.

 

Schon klar: Diese schräge Hutmacher-Familienchronik soll die Atmosphäre eines Tanzes auf dem Vulkan heraufbeschwören, mit der Historiker gemeinhin die Lage vor dem Ersten Weltkrieg charakterisieren. Die präsentiert Regisseur Nemes jedoch so plump und plakativ wie ein vormoderner Moritatensänger: Hört her, ihr Leut‘, was gar Schröckliches geschehen!

 

Dabei sind solche fantastische Szenarien im ungarischen Autorenfilm sehr präsent: sei es als monumentale Allegorien wie bei Béla Tarr, als wundervoll selbstverständliches Alltags-Märchen wie im Berlinale-Siegerfilm „Körper und Seele“ (2017) von Ildikó Enyedi oder als eher bemühte Grotesken wie „Jupiter’s Moon“ (2017) von Kornél Mundruczó oder „Bibliothèque Pascal“ (2010) von Szabolcs Hajdu.

 

Viktor Orbán soll fördern

 

Mit seinem verquasten K.u.k.-Endzeit-Sittenbild demonstriert László Nemes jedoch vor allem, wie rasch sich originelle und eindrucksvolle Stilmittel abnutzen, wenn man sie willkürlich beliebigen Sujets überstülpt. Die einzigartige Bildsprache von Béla Tarr ist gerade deshalb so innovativ, weil sie wie aus der Zeit gefallen wirkt, indem sie zum geduldigen Miterleben realer Abläufe zwingt: etwa in seinem 450-minütigen Meisterwerk „Satanstango“ von 1994.

 

Sein Schüler Nemes verramscht sie, indem er sie uninspiriert für Schlüsselmomente mit garantiertem Schockeffekt auswalzt: Kriegsausbruch 1914 oder KZ-Genozid 1944. Das zynische Kalkül lässt sich leicht fortspinnen: Einen Historien-Porno von László Nemes über die antisowjetischen Opfer des Budapester Aufstands 1956 wird die nationalchauvinistische Regierung von Viktor Orbán gewiss großzügig fördern.