Peter Jackson

They Shall Not Grow Old

. Foto: © 2018 Imperial War Museum. Fotoquelle: Warner Bros. Pictures Germany
(Kinostart: 27.6.) Wiedersehen mit dem Ersten Weltkrieg: Regisseur Peter Jackson hat historisches Archivmaterial aufwändig bearbeitet, um 100 Jahre nach Kriegsende das damalige Frontgeschehen aus Soldaten-Sicht vorzuführen – ein gelungenes Experiment.

Kino im Kugelhagel: Seit Steven Spielbergs „Der Soldat James Ryan“ (1998) versuchen zeitgenössische Kriegsfilme, möglichst nah an das Erleben einzelner Soldaten heranzurücken. Tödliche Militärtechnik und das Chaos in Schlachten werden – zuletzt beispielsweise in Christopher Nolans Materialorgie „Dunkirk“ von 2017 – vorgeblich authentisch und damit immer aggressiver bebildert und vertont. Das Publikum soll das Kriegsgeschehen hautnah erfahren und davon überwältigt werden; wie einst die Gefreiten am Strand der Normandie oder in den Schützengräben.

 

Info

 

They Shall Not Grow Old

 

Regie: Peter Jackson,

132 Min., Großbritannien/ Neuseeland 2018

 

Weitere Informationen

 

Auch Regisseur Peter Jackson hat sich schon durch CGI-Schlachtgemälde mit unzähligen Statisten hervorgetan – sowohl in seiner „Herr der Ringe“- (2001/3) als auch in der „Hobbit“-Trilogie (2012/14). Darüber hinaus bewies er aber früh, dass er selbst bei skurrilem Horrorkino wie in „Braindead“ (1992) en passant noch die Schrecken etwa der Kolonialgeschichte mitzuerzählen vermag.

 

Von Kriegsanfang bis -ende

 

Es war also eine gute Idee, dass das britische „Imperial War Museum“ auf Jackson verfiel, als es jemanden suchte, der zum 100. Jahrestag des Versailler Friedensvertrages das Filmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg in seinen Archiven aufbereiten könnte. Mit enormem Aufwand schufen der Neuseeländer und sein Team daraus einen Dokumentarfilm, der den Alltag britischer Frontsoldaten zwischen 1914 und 1918 zeigt: von der freiwilligen Meldung über die Vorbereitungen bis zu Kampfeinsätzen, Kriegsende und Demobilisierung.

Offizieller Filmtrailer


 

Vertont von Profi-Lippenlesern

 

Zur Schilderung der Schrecken der Front wie des Lebens in der Etappe standen hunderte Stunden an Originalaufnahmen zur Verfügung; ausgewählte Auszüge wurden restauriert und teilweise koloriert. Arrangiert ist die Filmerzählung am roten Faden eines Off-Textes, der sich aus Interviews mit Kriegsteilnehmern aus BBC-Archiven, Briefen und Tagebucheinträgen von Soldaten zusammensetzt – Jackson engagierte sogar professionelle Lippenleser, die Bemerkungen von im Stummfilm-Material gezeigten Soldaten übersetzten.

 

Trotz der Drastik des Themas setzt Jackson dankenswerterweise nicht in erster Linie auf Schocks. So beginnt der Film zur gepfiffenen Melodie eines damals populären Lieds als kleinformatiger Schwarzweiß-Film im Film mit einer Kolonne marschierender Soldaten. Allmählich zieht das Bild auf, bis es die gesamte Leinwand füllt; später kommt Farbe hinzu, die das Gezeigte dem Betrachter noch näher bringt.

 

Krieg als Abwechslung vom Alltag

 

Dabei enthält sich Jackson jeden Kommentars zu Kriegsursachen und Schuldfragen. Erzählt wird aus der Perspektive von jungen britischen Arbeitern, die sich im August 1914 freiwillig und begeistert vor den Rekrutierungsbüros sammeln. Meist sind sie erst 16 bis 18 Jahre alt, zum Teil sogar jünger. Sie wissen nur, dass irgendetwas in Serbien passiert ist und dass ihr Königreich eine Nation ist, die es wie andere auch verdient, verteidigt zu werden. In erster Linie nehmen sie den Krieg vor allem als Abenteuer wahr – und den Armeedienst als Chance, ihren trost- und perspektivlosen Alltag hinter sich zu lassen.

 

Weder ihre äußerst überschaubare Ausrüstung noch der als notwendig empfundene Drill schmälert ihre Begeisterung. Dann geht es los. Die Rekruten werden in völlig überfüllten Ausflugsbooten auf den Kontinent übergesetzt; ohnehin erwarten sie, dass bis Weihnachten alles vorbei sein wird. Frankreich erscheint ihnen als blühendes Land – und irgendwann stehen sie an der Westfront und müssen sich mit dem Dasein in Schützengräben, karger Kost, Lärm, Schmutz und Verwahrlosung herumschlagen. Über die katastrophalen hygienischen Zustände kann man zumindest trefflich Fäkalwitze machen.

 

Bordelle bleiben in Erinnerung

 

Dennoch klingen die Kommentare der Soldaten immer noch überraschend entspannt. Die Entfesselung der industriellen Kriegsmaschinerie ähnelt, insbesondere beim Nachschub in der Etappe, in vielem der ihnen geläufigen Fabrikarbeit. Selbstverständlich ist der Gedanke an den möglichen Tod präsent, aber er wird als unvermeidlich hingenommen. Stärker als die Angst davor scheint die soziale Scham: Keiner will vor seinen Kumpels als Feigling dastehen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Frantz" - subtiles Kammerspiel über Hinterbliebene nach dem Ersten Weltkrieg von François Ozon

 

und hier eine Besprechung des Films "Im Krieg – Der 1. Weltkrieg in 3D" – historische Doku mit animierten Stereoskopie-Fotos von Nikolai Vialkowitsch

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die Welt um 1914: Farbfotografie vor dem Großen Krieg" mit Fotoserien von allen Kontinenten im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung  "1914 – Die Avantgarden im Kampf" mit Künstlern aus allen kriegführenden Nationen in der Bundeskunsthalle, Bonn.

 

Obwohl sich die Landschaft an der Front in einen von Verwesung verseuchten Matsch verwandelt und immer mehr Kameraden im Dauerbeschuss sterben, funktionieren die Taktiken des Überlebens. Eher als Gas und Bomben bleiben den Soldaten die französischen Mädchen in Erinnerung – und sei es in Bordellen: Viele hatten zuvor noch keine sexuellen Erfahrungen gemacht.

 

Fünf von sechs Angreifern sterben

 

Der dramatische Höhepunkt ist ein Bajonettangriff auf eine deutsche Maschinengewehr-Stellung. Von 600 beteiligten Soldaten werden binnen weniger Minuten 500 niedergemetzelt, teilweise auch, weil sie ins friendly fire der eigenen Artillerie geraten. Fehlende Filmbilder ersetzt Regisseur Jackson hier durch etwas zu heroisch geratene Zeichnungen. Beim kurzen Gemetzel an den noch lebenden Feinden wird die Leinwand schwarz.

 

Aus Sicht der überlebenden britischen Sieger sind sie mit ihren deutschen Gefangenen auf Augenhöhe; irgendwie sitzen alle in einem Boot. Schließlich ist alles vorbei. Der endlose Lärm hört auf, doch in der einsetzenden Stille weiß keiner so recht, was zu tun ist. Feierlaune kommt nicht auf; zurück im Vereinigten Königreich erleben die Soldaten sozialen Ausschluss und werden meist arbeitslos.

 

Keine Überwältigungsästhetik

 

Die schlimmsten im Off-Kommentar geschilderten Verletzungen werden nicht gezeigt; aber was zu sehen ist, reicht völlig aus, um sich die Schrecken des Fronterlebnisses vorstellen zu können. Dabei gelingt es Jackson, mit einer klug kompilierten Tonspur aus Aussagen einfacher Soldaten allemal mehr von der Realität des Krieges einzufangen, als aufwändige CGI-Rekonstruktionen es könnten. Gerade weil er auf solche Überwältigungsästhetik verzichtet, bleibt genug Raum, das Gesehene auch zu verarbeiten  – soweit das möglich ist.