Juliette Binoche

Zwischen den Zeilen (Doubles Vies)

Schauspielerin Selena (Juilette Binoche) und Autor Léonard (Vincent Macaigne) haben seit sechs Jahren eine Affäre. Foto: Alamode Filmverleih
(Kinostart: 6.6.) Mehr Schwatzorgie als Seitensprünge: Regisseur Olivier Assayas will die erotische Doppelmoral unter Pariser Intellektuellen enthüllen. Doch sein Sittenbild gerät zur spannungsarmen Zeitdiagnostik – seine Figuren interessiert mehr ihre Jobs als die Liebe.

Endlich wieder einmal ein Netzwerk nicht im technischen Sinne, sondern im amourösen: Verleger Alain (Guillaume Canet) ist mit der Schauspielerin Selena (Juliette Binoche) verheiratet, geht aber mit Laure (Christa Théret) ins Bett, der jungen Digital-Beauftragten des Verlags. Selena hat eine Affäre mit dem Autor Léonard (Vincent Macaigne), dessen Bücher von Alain publiziert werden. Zudem sind Léonard und Valérie (Nora Hamzawi) ein Paar; die völlig überlastete Spitzenpolitiker-Assistentin bleibt als einzige in diesem Quintett ungeküsst.

 

Info

 

Zwischen den Zeilen (Doubles Vies)

 

Regie: Olivier Assayas

107 Min., Frankreich 2018;

mit: Juliette Binoche, Guillaume Canet, Vincent Macaigne

 

Weitere Informationen

 

Beziehungsgeflechte der Irrungen und Wirrungen sind eine französische Spezialität seit den Sittenkomödien von Molière. Deren klassisches Schema überträgt Regisseur Olivier Assayas ins heutige Pariser Intellektuellen-Milieu. Nicht als erster Autorenfilmer: Mit solchen Sujets bestritten etwa François Truffaut und Éric Rohmer einen Großteil ihres Gesamtwerks, das Assayas als Ex-Redakteur der wichtigsten französischen Filmzeitschrift „Cahier du Cinéma“ gewiss in- und auswendig kennt. Dem fügt er nur radikale Aktualisierung hinzu: mit Smartphones, Tablets und Podcasts.

 

Fellatio im Kino

 

Dabei bleiben die Konflikte zeitlos: Selena ist ein Fernsehstar – doch ihre Rolle in einer beliebten Action-Serie ist ihr zu klischeelastig; sie strebt nach Höherem. Alain lehnt Léonards neuestes Manuskript ab, weil er zu offensichtlich sein eigenes Liebesleben literarisch ausschlachtet – unter anderem in einer Fellatio-Szene mit Selena, die sich im Kino zutrug. Alain will mit attraktiven Aufgaben Laure an sich und seinen Verlag binden, doch die sieht ihn nur als Karriere-Sprungbrett. Derweil ist Valérie beruflich so eingespannt, dass sie ansonsten nichts mitbekommt.

Offizieller Filmtrailer


 

Virales Marketing auf der Bettkante

 

Dennoch könnte die Konstellation prickelnd wirken, würden sich die Protagonisten mehr um ihr Liebesleben kümmern – sie interessieren sich aber nur für ihre Jobs. Noch auf der Bettkante diskutieren Alain und Laure über Ebook-Verkäufe und virales Marketing via Facebook oder Twitter.

 

Léonard muss sich bei Lesungen und Radio-Interviews wortreich gegen Vorwürfe wehren, seine Autofiktions-Romane würden seine Ex-Partnerinnen bloßstellen. Ohnehin fragt sich, was die sinnliche Selena an diesem neurotischen Vollbart-Zausel finden soll – das Skript dichtet beiden eine sechsjährige Beziehung an.

 

Lustlose Bettgeschichten

 

Die sie dann mal eben an der Bistro-Bar beendet, zwischen Espresso und Orangensaft; genug sei genug. Ähnlich leidenschaftslos gehen alle Figuren mit ihren Gefühlsregungen um – passioniert und laut werden sie am ehesten, wenn es um die Zukunft der Verlagsbranche, ihren nächsten TV-Auftritt oder die Frage geht, ob beim Kino-Fellatio auf der Leinwand „Star Wars“ oder „Das weiße Band“ von Michael Haneke lief. Im Cannes-Sieger von 2009 ging es um Gewalt gegen und Missbrauch von Kindern.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Personal Shopper" - Mystery-Thriller von Olivier Assayas

 

und hier einen Bericht über den Film "Die Wolken von Sils Maria" - vielschichtiges Schauspielerinnen-Drama mit Juliette Binoche von Olivier Assayas

 

und hier ein Interview mit Olivier Assayas über den Film "Die Wolken von Sils Maria": "Juliette rannte nackt ins Wasser"

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die wilde Zeit – Après mai" - brillante Kollektiv-Biographie der französischen Jugend in den frühen 1970er Jahren von Olivier Assayas.

 

Je länger man solchen Dialogen lauscht, desto stärker drängt sich der Eindruck auf, Regisseur Assayas wolle das Verkümmern von Liebe und Sex im digitalen Zeitalter vorführen. Seine acht- und lustlos dahinplätschernden Bettgeschichten heißen im Original „Doubles Vies“, also „Doppelleben“ – nur weil die Palavernden sich zwischendurch auch mal kurz ausziehen.

 

Kein Doppelleben auf Motorroller

 

Da ist Frankreich als Heimat von Marquis de Sade und Catherine Millet stärkeren Tobak gewöhnt: Selbst Staatspräsidenten gesteht man großzügig amouröses Doppelleben zu, sofern sie es nicht wie François Hollande auf dem Motorroller ausleben.

 

Optimistischer wäre die Deutung, dass dieser Libidoverlust weniger die Pariser Intellektuellen-Szene als vielmehr den Regisseur betrifft. Assayas hat nacheinander drei brillante zeithistorische Analysen gedreht, vom Terroristen-Porträt „Carlos – Der Schakal“ (2010) über „Die wilde Zeit – Après mai“ (2013) über die Desillusionierung nach dem Mai 1968 bis zu „Die Wolken von Sils Maria“ (2014), einem facettenreichen Vergleich von europäischer Hochkultur mit US-Entertainment. Doch sein anschließender Ausflug ins Okkulte, der Mystery-Thriller „Personal Shopper“ (2016), ging peinlich daneben.

 

Als nächstes Amour fou

 

Kein Fingerspitzengefühl fürs Esoterische, und ebenso wenig fürs Erotische: „Zwischen den Zeilen“ räsoniert passabel über Technik, Gesellschaft und Literaturbetrieb, aber windet sich bemüht um alle Herzens- und Unterleibs-Angelegenheiten herum. Vielleicht sollte sich Assayas vor seinem nächsten Sittengemälde eine wilde und nervenaufreibende Amour fou gönnen.