
Der Ausstellungstitel ist schon sehr gewagt: Als „Alte Meister“ werden gewöhnlich Renaissance- und Barock-Maler bis zum 18. Jahrhundert bezeichnet. Doch überträgt man den Begriff auf die kurze Geschichte der westdeutschen Kunst, wirkt er gar nicht deplatziert: Georg Baselitz, Gerhard Richter, Sigmar Polke und Anselm Kiefer haben den Kunstbetrieb der alten Bundesrepublik so geprägt wie sonst nur noch Kiefers Lehrer Joseph Beuys. Darauf kommt es Kurator Götz Adriani als einem Protagonisten dieser Ära an; ab 1971 war er 34 Jahre lang Direktor der Tübinger Kunsthalle.
Info
Die jungen Jahre der Alten Meister: Baselitz - Richter - Polke - Kiefer
12.04.2019 - 18.08.2019
täglich außer montags
10 bis 17 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Staatsgalerie, Konrad-Adenauer-Str. 30 - 32, Stuttgart
Katalog 34,90 €
13.09.2019 - 05.01.2020
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr in den Deichtorhallen,
Deichtorstr. 1–2, Hamburg
Folgen der NS-Zeit allüberall
Aber es steckt auch den Zeitgeist ab, in dem drei der vier Jungkünstler damals losmalten. Samt eines Mega-Themas, das die Verhältnisse in West- wie Ostdeutschland prägte und durchdrang: die NS-Terrorherrschaft und ihre noch überall sicht- und spürbaren Folgen. Darauf reagierten alle vier, jeder auf seine Weise. Dies mit ihrer Gegenüberstellung anschaulich zu machen, ist das Verdienst dieser Schau; sie wird bei der zweiten Station in den Hamburger Deichtorhallen in erweiterter Form gezeigt.
Impressionen der Ausstellung: Werke von Baselitz, Richter + Kiefer
Masturbierende Mutanten-Gestalt
Es wäre überzogen, ihr Frühwerk auf gemalte Vergangenheitsbewältigung zu reduzieren. Doch dass ihre ganz unterschiedlichen künstlerischen Strategien auf die Erfahrungen von Krieg, Zerstörung und Leid bezogen waren, wird in der Rückschau wohl noch deutlicher als für die damaligen Zeitgenossen. Am offensichtlichsten bei Georg Baselitz: Sein Bild „Die große Nacht im Eimer“ mit einer kruden, masturbierenden Mutanten-Gestalt wurde 1963 wegen Unsittlichkeit beschlagnahmt – ein möglicherweise inszenierter Skandal.
Mit mächtigen Geschlechtsteilen waren auch viele der heroischen Figuren versehen, die Baselitz in den Folgejahren malte. Eine Kohorte seltsamer Helden: uniformiert und versehrt, verstümmelt, zerrissen, oft buchstäblich in Einzelteile aufgelöst. Die brachiale Malweise, mit der Baselitz sie auf die Leinwand warf, verstörte damals noch mehr als heute. Um 1960 dominierten Abstraktion und Informel; figurative Malerei galt als gestrig oder kommunistisch.
Kapitalistischer Realismus als deutsche Pop-Art
1969 drehte Baselitz erstmals sein Motiv um: „Der Wald auf dem Kopf“ zeigt genau das, nämlich Baumstämme mit den Kronen nach unten. Damit hatte der Maler sein Markenzeichen gefunden, das er fortan ad nauseam wiederholen sollte. Das hatte Gerhard Richter nie nötig: Als einziger der vier legte er sich nicht auf Wiedererkennungswerte fest, sondern probierte im Laufe der Jahre alle möglichen Maltechniken und Sujets aus, oft gleichzeitig – ohne Vorwissen hielte man sie kaum für die Arbeiten ein- und desselben Künstlers.
Davon zeigt die Staatsgalerie eine klug komponierte Auswahl. Richters verwischte Abmalungen von Schwarzweiß-Fotografien mit trivialen Motiven der Konsumgesellschaft – etwa Reklame oder Familienporträts – oder Wiedergängern aus der NS-Zeit markieren sein Bekenntnis zum „Kapitalistischen Realismus“: 1963 wollte er mit seinem Studienkollegen Sigmar Polke und anderen quasi eine deutsche Variante der Pop-Art etablieren. Später experimentierte er mit Farbfeld-Malerei in Grautönen oder verlegte sich auf nuancenreiche Grisaillen-Landschaften wie im „Seestück“ von 1969.
Höhere Wesen lassen schwarz malen
Ganz anders sicherte sich Sigmar Polke seinen Platz im bundesdeutschen Kunstkanon: Mit mehr oder weniger gelungenen Scherzen kaschierte er seine überschaubaren handwerklichen Fähigkeiten. Oft löste er Alltags-Motive in übergroße Rasterbilder auf; solch demonstrative Anspielung auf vergröbernde Darstellung in Massenmedien ist im Digitalzeitalter kaum noch verständlich.
Oder er spannt die Konturen der berühmten Hasen-Radierung von Dürer mit einem Gummiband auf der Leinwand nach; ein Hingucker, der immer noch für Lacher sorgt. Komplexer wirken seine Bilder auf gemustertem Untergrund durch den Kontrast zwischen strengem Muster-Schema und dem Motiv, das es sprengt. Zu sehen ist auch der genial lakonische Bildwitz, mit dem Polke 1969 das esoterische Bedeutungs-Geraune moderner Kunsttheorie aufspießte: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“
Amerika-Fixierung des Kurators
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Gerhard Richter - Abstraktion" im Museum Barberini, Potsdam
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Gerhard Richter: Panorama" - umfassende Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Georg Baselitz: Damals, dazwischen und heute" - große Werkschau im Haus der Kunst, München
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Georg Baselitz: Berliner Jahre" - Überblick über das Frühwerk in der Villa Schöningen, Potsdam
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Leben mit Pop: Eine Reproduktion des Kapitalistischen Realismus" mit Werken von Sigmar Polke + Gerhard Richter in der Kunsthalle Düsseldorf.
Berserkertum, Experimente, Kalauer oder Wiederholungszwang: vier verschiedene, aber in sich schlüssige Methoden, auf das geistige Klima der Epoche zu reagieren. Dass Kurator Götz Adriani die Vier zu Olympiern der zeitgenössischen Kunst hochstilisiert, mutet allerdings arg angestrengt an – zumal er dafür zweifelhafte Argumente bemüht. Etwa die Behauptung, erstmals seit der Renaissance würden gleich vier deutsche Künstler schon zu Lebzeiten im Ausland anerkannt. Worunter er vor allem versteht, dass alle bereits in US-Museen ausgestellt wurden – womit er ein weiteres Beispiel für die Amerika-Fixierung der bundesdeutschen Nachkriegsgeneration liefert.
Mehr über fette Jahre der Alten Meister
Neben der Werkauswahl hat Adriani auch den 350-seitigen Katalog allein besorgt: durch ellenlange Interviews mit den drei noch lebenden Künstlern und einen Essay über den 2010 gestorbenen Polke. Darin zeichnet der langjährige Kunsthallen-Direktor nicht nur haarklein ihren Werdegang nach, samt ausgiebiger Würdigung seines eigenen Wirkens in Tübingen. Er porträtiert auch ausführlich die Strippenzieher im Kunstbetrieb der alten Bundesrepublik: eine Handvoll potenter Großsammler kaufte einer kleinen Schar einflussreicher Galeristen ganze Werkkomplexe ab, was ihre Schöpfer mit Museumsreife adelte. Ihnen verlieh dann ein Zirkel maßgeblicher Museumsleiter mit Einzelausstellungen das Gütesiegel: staatlich anerkannter Großkünstler.
Will man wissen, wer wann und wie Baselitz, Richter, Polke und Kiefer zu Superstars der Gegenwartskunst hochgejazzt hat: In Adrianis detaillierter Auflistung von Solo-Schauen, Messeverkäufen und anderen Transaktionen ist es zu finden. Was er mit Wehmut beschreibt: Heute können Museumsleute finanziell nicht mehr mithalten – das dicke Geschäft machen Mega-Galeristen und -Sammler unter sich aus. Ihnen sollte er sein nächstes Ausstellungsprojekt widmen: über die fetten Jahre der Alten Meister.