
Nur wenige Maler haben die Kunst ihrer Epoche derart stark geprägt wie Michelangelo Merisi (1571-1610), genannt Caravaggio – und das in nur 18 Jahren! Dabei war der hochtalentierte 21-Jährige praktisch mittellos, als er 1592 von Mailand nach Rom zog. Damals erlebte die Ewige Stadt eine neue Blütezeit; reiche Kleriker protegierten viel versprechende Künstler und sammelten ihre Werke en gros. Hier wollte Caravaggio reüssieren.
Info
Utrecht, Caravaggio und Europa
17.04.2019 - 21.07.2019
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
dienstags und mittwochs bis 21 Uhr
in der Alten Pinakothek, Barer Str. 27, München
Katalog 34,90 €
Vier Jahre auf der Flucht
Manche Zeitgenossen waren begeistert, andere befremdet, doch alle tief beeindruckt: Von vielen Bildern entstanden rasch mehrere Versionen oder Kopien, wobei die Unterscheidung oft schwer fällt. Dabei konnte Caravaggio seinen frischen Ruhm kaum genießen: Er hatte dauernd Ärger mit Polizei und Justiz, weil er ständig in gewalttätige Streitereien verwickelt war. Nach einem Totschlag musste er 1606 aus Rom fliehen; erst nach Neapel, später nach Malta und Sizilien. Bei seiner Rückkehr nach Rom starb er 1610; die Ursache ist unklar.
Impressionen der Ausstellung; © Centraal Museum Utrecht
Drei Maler aus Utrecht in Rom
Noch zu Lebzeiten wurde Caravaggio weit über Italien hinaus bekannt: So pries der niederländische Kunsttheoretiker Karel van Mander bereits 1604 die „wunderlichen Dinge“, die er in Rom vollbringe, und empfahl sie allen Kollegen zur Beachtung. Dem folgten viele: Der Caravaggismus wurde im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts europaweit eine wichtige Strömung. Drei seiner bedeutendsten Vertreter stammten aus Utrecht: Hendrick ter Brugghen (1588-1629), Gerard van Honthorst (1592-1656) und Dirck van Baburen (1592/3-1624). Alle drei lebten und arbeiteten jahrelang in Rom.
Sie stehen im Zentrum dieser Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Centraal Museum in Utrecht entstand und dort Anfang des Jahres gezeigt wurde. Unter den mehr als 70 Werken finden sich auch solche anderer Caravaggisten, vor allem aus Italien und Frankreich. Die Schau ist aber nicht nach nationalen Traditionen oder chronologisch gegliedert, sondern nach Bildtypen. Das hat mehr Nach- als Vorteile.
Vorbild als bekannt vorausgesetzt
Angefangen beim Einstieg: Leben und Werk von Caravaggio werden praktisch als bekannt vorausgesetzt. Von ihm selbst sind nur drei Gemälde zu sehen; ein viertes – seine berühmte und oftmals nachgeahmte „Grablegung Christi“ aus den Vatikanischen Museen – wurde nach nur einem Monat Verweildauer am 21. Mai wieder abgehängt und zurückgeschickt.
So beeindrucken zum Auftakt in der „Helden“-Galerie gleich sieben Variationen von „David und Goliath“ von ebenso vielen Malern – doch unklar bleibt, auf welches Vorbild sie sich beziehen: Caravaggios stilprägendes David-Porträt mit Goliaths abgeschlagenem Haupt aus der römischen Galleria Borghese ist nur im Begleitheft klein abgedruckt. Direkt daneben gibt es zu drei Bildern von „Judith und Holofernes“ überhaupt keinen Hinweis auf Caravaggios drastische Version im römischen Palazzo Barberini.
Rollenmodell weißer alter Mann
Ähnlich lückenhaft zusammengestellt wirken die weiteren Sektionen. Die „Heiligen“ warten mit einem Originalgemälde von Caravaggio auf: seine Nahansicht des „meditierenden Hieronymus“ aus Montserrat nahe Barcelona. Sie macht anschaulich, dass sein Bildnis eines halbnackten, ausgezehrten Greises nach 1615 von Nachfolgern auf andere Heilige übertragen wurde. Der in Italien lebende Spanier Jusepe de Ribera stellte auf diese Weise Petrus und Andreas dar, wie auch Hendrick ter Brugghen und der Franzose Nicolas Tournier: weiße alte Männer als himmlische Rollenmodelle.
Dagegen findet sich das Vorbild für drei verschiedene Szenen der „Verleugnung Petri“ abermals nur im Begleitheft: Caravaggios „Berufung des heiligen Matthäus“ als Gruppenbild mit extremem Seitenlicht. Und in den acht Unterabteilungen, die Christus-Darstellungen gewidmet sind, bleibt das Schule machende Genie beinahe völlig abwesend.
Pro und Contra Bildvergleiche
Dieses Ordnungsschema erlaubt eingehende Bildvergleiche, etwa bei der „Dornenkrönung Christi“: vier Mal die gleiche Handlung, doch vier Mal unterschiedlich akzentuiert. Der Italiener Bartolomeo Manfredi modelliert für den Heiland ehrfurchtsvoll einen athletischen Körper, sein Landsmann Orazio Gentileschi betont dagegen die Brutalität der Schergen. Ob und wie sehr sich diese Caravaggisten an ihr Vorbild anlehnten, erschließt sich aber erst, wenn man dessen in Wien aufbewahrte „Dornenkrönung“ kennt: Manfredi kopiert quasi diese Komposition, Gentileschi spiegelt sie.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Hommage an Caravaggio 1610 - 2010" - zum 400. Todestag des Malers mit zwei Originalen + Werken der Caravaggisten in der Gemäldegalerie, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Zurbarán - Meister der Details" - grandiose Werkschau des spanischen Caravaggio im Museum Kunstpalast, Düsseldorf
und hier einen Bericht über die Ausstellung "El Siglo de Oro – Die Ära Velázquez" – brillanter Überblick über Barock in Spaniens Goldenem Zeitalter mit Werken von Ribera + Zurbarán in Berlin + München.
Überblick ohne tiefere Einsichten
Gewiss: Detaillierte Bildvergleiche sind das Einmaleins der Kunsthistoriker, und sie dem Publikum nahe zu legen, schärft dessen Blick – zumal bei so hochklassigen Arbeiten wie in dieser Schau. Doch wenn sie sich allein darauf beschränkt, unterschlägt sie andere spannende Aspekte: Warum hatte Caravaggio so durchschlagenden Erfolg, dass er binnen weniger Jahre eine regelrechte Mode lostrat? Wie eigneten sich Bewunderer seine Maltechniken an – was übernahmen sie, was ließen sie beiseite? Gab es im Caravaggismus nationale Schulen, oder überwog die individuelle Handschrift? Und warum war die Bewegung Mitte des Jahrhunderts schon wieder passé?
Auf solche Fragen liefert diese Ausstellung keine Antworten; sie beschränkt sich willentlich darauf, Werke einer Handvoll Akteure auszubreiten. Damit präsentiert sie einen opulenten Überblick über das Phänomen des Caravaggismus, doch kaum tiefer gehende Einsichten: Anschauung ohne Begriffe bleibt blind.