Javed (Viveik Kalra) ist zwar erst 16 Jahre alt. Doch er schleicht 1987 durch seinen Alltag im drögen Londoner Vorort Luton, als trage er die Last der Welt auf seinen Schultern; tatsächlich hält sein Leben nicht allzu viele Lichtblicke bereit. Auf den Straßen der trostlosen Wohnsiedlung muss er sich mit allgegenwärtigem Rassismus arrangieren, zu Hause mit seinem überstrengen pakistanischen Vater Malik (Kulvinder Ghir).
Info
Blinded by the Light
Regie: Gurinder Chadha,
118 Min., Großbritannien 2019;
mit: Viveik Kalra, Kulvinder Ghir, Aaron Phagura
Website zum Film
Geheime Leidenschaft für Poesie
Viel Luft zum Atmen bleibt ihm also nicht; außerdem soll er sich vom verwerflichen westlichen Lebensstil fernhalten. Doch er geht zumindest einer geheimen Leidenschaft nach er: Abends, wenn er anders als sein Kumpel nebenan nicht vor die Tür darf, schreibt Javed Gedichte. Viel Selbstvertrauen gibt ihm das jedoch nicht; eher verstärkt sein Hobby die latenten Schuldgefühle, die er mit sich herumschleppt. Seine engagierte Englischlehrerin muss sich einiges einfallen lassen, um ihn aus der Reserve zu locken.
Offizieller Filmtrailer
Von Bruce Springsteen verstanden
Zum eigentlichen Katalysator für Javed, nach dem richtigen Leben im falschen zu suchen, wird der US-Rockstar Bruce Springsteen. Als sein Mitschüler Roops (Aaron Phagura) ihn mit „The Boss“ bekannt macht, ist das ein Erweckungserlebnis. Auch wenn Springsteen in seinen Songs die Alltagsnöte und unerfüllten Hoffnungen im Kleinstadt-Amerika besingt, zudem mehr als 20 Jahre älter ist als Javed, und die beiden auch sonst biographisch wenig verbindet: Der Teenager fühlt sich erstmals in seinem Leben verstanden.
Regisseurin Gurinder Chadha wurde international 2002 mit „Kick it like Beckam“ bekannt. Die Komödie erzählte von einem indisch-britischen Mädchen, das gegen den Willen ihrer konservativen Eltern eine Fußball-Karriere anstrebt. Danach drehte Chadha einige eher uninspirierte Filme, aber auch das grandiose Historien-Epos „Viceroy’s House – Der Stern von Indien“ (2017) über die Unabhängigkeit und Teilung des Subkontinents 1947.
Fast wie Verwandlung in Superman
17 Jahre nach „Kick it like Beckam“ greift Chadha das Thema Selbstbestimmung von Migranten-Jugendlichen wieder auf; doch ersetzt sie für ihre charmante Tragikomödie den Sport durch Popmusik als Medium der Selbstfindung. „You can’t start a fire without a spark“ („Ohne Funken lässt sich kein Feuer entfachen“) singt Springsteen im Song „Dancing In The Dark“ von 1984. Für seinen Fan Javed ist Springsteen selbst der Funke, obwohl der mit seiner schnörkellosen Bodenständigkeit kaum anschlussfähig scheint an den ironisch-theatralischen Zeitgeist des britischen 1980er-Jahre-Pop.
In einer stürmischen Nacht mit Walkman-Kopfhörern auf den Ohren erlebt Javed eine erstaunliche Transformation; sie erinnert fast an Clark Kents Verwandlung in Superman. Plötzlich sieht der zuvor eher unauffällige junge Mann zudem richtig gut aus. Der Film bemäntelt seinen Kitsch-Faktor nicht, im Gegenteil: Regisseurin Chadha streicht ihn demonstrativ heraus, mit stolzgeschwellter Brust.
Bollywood-artiger Straßentanz
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Stern von Indien - Viceroy's House" - faszinierend bildgewaltiges Historien-Drama über Indiens Unabhängigkeit von Gurinder Chadha
und hier einen Beitrag über den Film "Was werden die Leute sagen" - nüchternes Meldodram über die Verschleppung einer Tochter nach Pakistan von Iram Haq
und hier einen Bericht über den Film "West is West" – turbulente britisch-pakistanische Culture-Clash-Komödie von Andy De Emmony
und hier einen Beitrag über den Film "Die eiserne Lady" – Biopic über Premierministerin Margaret Thatcher von Phyllida Lloyd.
Abgesehen von solchen Feelgood-Ausbrüchen bewegt sich der Film jedoch vorhersehbar auf vertrautem Terrain. Die Coming-Of-Age-Geschichte enthält kaum Überraschungsmomente; stattdessen aber viel Familiensinn, trotz aller Reibereien unter Verwandten, und dazu reichlich leicht konsumierbare 1980er-Jahre-Nostalgie; etwa, wenn Underdog-Popfans wie Javed auf die schnöseligen Besserwisser vom Uniradio treffen. In Großbritannien wird eben so ziemlich alles durch Klassenverhältnisse grundiert.
Von „National Front“ zum Brexit
Zwischendurch bietet der Film bei aller lockeren Unterhaltung auch noch ein paar substanziellere Einblicke. Wenn Regisseurin Chadha die rechtsradikale „National Front“ durch Luton marschieren lässt, erinnert sie daran, dass die Brexit-Entscheidung und die damit verbundene Fremdenfeindlichkeit keineswegs vom Himmel gefallen sind; sie haben ihre Wurzeln in hier dargestellten Auswüchsen. Diese Kontinuität konnte man um das Jahr 2000 herum, als sich das Vereinigte Königreich als rundum globalisiertes, ultraliberales und -flexibles „Cool Britannia“ präsentierte, leicht aus den Augen verlieren.