Wiedersehen mit einem Shooting Star: Mit seinem Spielfilmdebüt „Lunchbox“ gelang dem indischen Regisseur Ritesh Batra 2013 völlig überraschend ein Arthouse-Kassenschlager. Weltweit mehr als zehn Millionen US-Dollar spielte seine subtile Romanze ein, in der sich ein alternder Angestellter und eine Köchin durch Zettel im Geschirr des Mittagessens näher kommen, das sie täglich für ihn kocht. Das geläufige Bollywood-Schema einer späten Liebe trotz Hindernissen erzählte der Film auf originell alltägliche Weise – das mundete einem Millionenpublikum.
Info
Photograph - Ein Foto verändert ihr Leben für immer
Regie: Ritesh Batra,
110 Min., Indien 2019;
mit: Nawazuddin Siddiqui, Sanya Malhotra, Farrukh Jaffar
Foto von Unbekannter an Oma
Wobei sich mit den Hauptfiguren, die der muslimischen Minderheit angehören, gewiss Millionen von Landsleuten identifizieren können. Der arme Schlucker Rafi (Nawazuddin Siddiqui) verließ sein Dorf, um in der Metropole sein Glück zu machen; nun verkauft er Erinnerungs-Schnappschüsse am „Gateway of India“, dem Wahrzeichen an der Uferpromenade von Mumbai. Eines Tages lichtet er Miloni (Sanya Malhotra) ab – als seine resolute Oma (Farrukh Jaffar) ihn aus der Ferne ermahnt, er solle endlich ans Heiraten denken, schickt er ihr einfach das Foto der Unbekannten zu.
Offizieller Filmtrailer
Doppeltes brütendes Schweigen
Dummerweise ist Oma begeistert und kündigt ihren Besuch in Mumbai an, um seine Künftige kennen zu lernen. Rafi bleibt nur wenig Zeit, um Miloni ausfindig zu machen. Natürlich gelingt ihm das; überdies kann er sie überreden, Oma zuliebe seine Verlobte zu spielen. In jeder romantischen Komödie wäre der weitere Verlauf klar: Anfangs ziert sie sich, dann erliegt sie seinem Charme, und endlich kriegen sie sich. Doch Regisseur Batra setzt auf sozialen Realismus.
Seine Protagonisten sind durch den Standesunterschied und ihr Temperament viel zu gehemmt, um sich anzunähern; kaum wagen sie, einander anzusprechen. Gegenüber seinen Zimmergenossen – sie teilen sich zu viert einen Raum – geht Rafi zwar ein wenig aus sich heraus; mit ihnen redet er über Pläne und Hoffnungen. Doch die brave Studentin Miloni bekommt kaum die Zähne auseinander; weder ihm gegenüber noch in ihrer Mittelklasse-Familie. Und für nonverbale Kommunikation mit stummen Blicken und Gesten sind beide Schauspieler nicht ausdrucksstark genug. Ihr brütendes Schweigen lastet schwer.
Eine Flasche „Campa Cola“, bitte!
Erst als Rafis Großmutter auftaucht und mit üblichen Oma-Tricks wie ausgedehnten Strandspaziergängen und altem Familienschmuck als Geschenk für Miloni der Sache nachhilft, nimmt der Film etwas Fahrt auf. Manche Episoden, die beiden Charakteren mehr Profil geben sollen, erscheinen indes arg konstruiert. So behauptet Miloni gegenüber ihrer Hausangestellten und einer möglichen „guten Partie“, mit der ihre Eltern sie verkuppeln wollen, sie sehne sich nach einfachem Landleben – was völlig folgenlos bleibt.
Hintergrund
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Unsichtbare Seelenqualen
Zwar wird hinreichend deutlich, dass Regisseur Batra um jeden Preis Bollywood-Klischees vermeiden will. Seine Ambitionen gehen offenbar in Richtung des kühl beobachtenden Neorealismus von Satyajit Ray (1921-1991), dem Übervater des indischen Autorenkinos. Doch er findet keine Elemente, um den lähmenden Druck aus eigenen Wünschen und sozialen Erwartungen prägnant zu veranschaulichen, unter dem beide Hauptakteure leiden. Wie verpuppt in einen Kokon aus schüchternem Zaudern tasten sie sich zögerlich über die Leinwand; da möchte man ihnen fast beruhigend zureden.
Es mag sein, dass Batra damit Menschen porträtiert, die im heutigen Indien häufig auftreten: Sie sind zwischen traditionellen Pflichten und ersehnten Möglichkeiten so zerrissen, dass sie sich kaum artikulieren oder anderweitig mitteilen können. Doch auch introvertiertes Mauerblümchen-Dasein sollte im Kino expressiv dargestellt werden – Seelenqualen sind nur plausibel, wenn man sie sieht und hört.