„Turn on, tune in, drop out!“: Die berühmte Parole von LSD-Papst Timothy Leary, die er am 14. Januar 1967 den rund 40.000 Teilnehmern des „Human Be-In“-Happenings im Golden Gate Park von San Francisco zurief, könnte auch als Motto dieser Ausstellung herhalten. Als Aufruf, sich einzulassen auf diese aberwitzig fantasievolle Bilderwelt, die ein neues Lebensgefühl und eine neue Weltsicht propagierte. Beides wirkt mehr als 50 Jahre später reichlich entrückt, weil es zum großen Teil uneingelöst blieb – bedauerlicherweise.
Info
Summer of Love: art, fashion, and rock and roll
26.06.2019 - 28.10.2019
täglich außer dienstags
11 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 21 Uhr
im PalaisPopulaire,
Unter den Linden 5, Berlin
Engl. Katalog 47,50 €
LSD-Verteilung + Feminismus
Denn die Wurzeln dieser Jugendrevolte reichen bis zum Anfang des Jahrzehnts zurück, wie die Schau deutlich macht. Ende der 1950er Jahre feiert die Subkultur der Beatniks literarische Erfolge, 1962 gründet Ken Kesey die „Merry Pranksters“-Kommune, die bei Happenings LSD verteilt. Ab dem Folgejahr bildet sich in Nevada und Kalifornien eine Psychedelic-Rock-Szene und siedelt sich vor allem in San Francisco an; zugleich publiziert Betty Friedan ihre Streitschrift gegen den „Weiblichkeitswahn“ und löst damit die zweite Welle des Feminismus aus.
Impressionen der Ausstellung
Gegen die formierte Gesellschaft
1964 eskaliert der Vietnamkrieg. Die US-Regierung schickt Hunderttausende von Wehrpflichtigen dorthin; dagegen protestieren sie mit der öffentlichen Verbrennung ihrer Einberufungsbefehle. Währenddessen radikalisiert sich die Bürgerrechtsbewegung: 1965 wird der schwarze Anführer Malcolm X ermordet, danach die „Black Panther Party“ gegründet. Auch Schwule und Lesben fordern mit Aktionen in San Francisco ihre rechtliche Gleichstellung. In dieser Atmosphäre des Aufbegehrens gegen eine formierte Gesellschaft wird der „Summer of Love“ zum Initiationserlebnis einer ganzen Generation.
Nach dem „Human Be-In“-Auftakt strömen wochenlang Zehntausende von Jugendlichen nach San Francisco. Sie kampieren meist auf den Straßen im Stadtteil Haight Ashbury, dessen Infrastruktur bald völlig überlastet ist. In Windeseile entwickelt sich eine neue Konsumkultur – einerseits altruistisch mit Gratis-Speisungen und -Läden für Bedürftige, andererseits kommerziell mit Konzerten und allerlei underground entertainment. Diese Events bringen ästhetisch avancierte und eigenwillige Artefakte hervor: Plattencover, Poster und Lightshows.
Plakate als eine Art Selbsterfahrung
Plattenhüllen einschlägiger Bands wie Grateful Dead, Quicksilver Messenger Service oder Jefferson Airplane stehen wohl bei jedem Fan dieser Stilrichtung im heimischen Regal. Doch die Plakate für Konzerte oder Lesungen aus dem „Fine Art Museum“ sind wirklich spektakulär: wild wuchernde graphische Gebilde, collagiert aus historischen Vorlagen, Comic-Emblemen und Op-Art-Elementen, oft in schreienden Farbkontrasten. Verschlungen wabernde Buchstaben lassen sich kaum entziffern – mit Absicht. „Das Plakat soll die Leute in eine Art Selbsterfahrung verwickeln“, erklärte 1967 Wes Wilson, der damals Reklame für die legendäre Konzerthalle „The Fillmore“ entwarf.
Im Rückblick fällt auf, wie eklektisch die Gestalter vorgehen. Erlaubt ist, was gefällt: Jugendstil-Grazien, Stummfilm-Diven, Surrealismus-Fragmente, aber auch Illustrations-Stiche aus dem 19. Jahrhundert etwa von Gustave Doré. Manches hat inhaltlichen Bezug zum Hippie-Kosmos: etwa Parodien auf Trapper in der US-Frühzeit, als Anspielung auf den Gründungsmythos grenzenloser Freiheit. Oder Darstellungen von Indianern und Gurus; die Besinnung auf Weisheiten der Ureinwohner gehört ebenso dazu wie Sehnsucht nach Spiritualität. Doch die meisten Motive passen weder zum Weltbild noch den beworbenen Bands – sie sind schlicht Hingucker.
Ideale im Oktober zu Grabe getragen
Ob man sie deshalb als postmodern bezeichnen kann, wie die Schau es tut? Eher nicht; den Designern ging es weniger um raffinierte Spiele mit Zitaten als vielmehr um das, was man Bewusstseinserweiterung nannte. Dabei gelang ihnen mit bescheidenen technischen Mitteln Erstaunliches. Victor Moscoso druckte mit verschiedenen Farben übereinander „animierte“ Plakate; in buntem Flackerlicht sah es so aus, als würden sich die Motive bewegen. Glenn McKay, Joshua White, Bill Ham und andere bauten aus Farbfiltern und Ölprojektoren mit gefärbten Flüssigkeiten Illusionsmaschinen für riesige Lightshows. Eine Installation von Ham ist in der Schau zu erleben; sie hat von ihrem visuellen Reiz nichts eingebüßt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Substance: Albert Hofmann’s LSD" - ausgezeichnete Doku über die halluzinogene Droge von Martin Witz
und hier eine Besprechung des Films "Love & Mercy" – brillantes Biopic über Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson und das End-60er-Lebensgefühl an der US-Westküste von Bill Pohland mit John Cusack
und hier einen Beitrag über den Film "Inherent Vice – Natürliche Mängel" – fantasievolle Verfilmung des 70er-Jahre-Späthippie-Krimis von Thomas Pynchon durch Paul Thomas Anderson mit Joaquin Phoenix.
Ohne Hippies kein Smartphone
Diese verspielte Optik war wenige Jahre später ebenso passé wie die Hippie-Botschaft von „Love, peace and happiness“. Ihr langlebigstes Vermächtnis steckt aber in einem recht unscheinbaren Exponat, einem Buch; sein Einband zeigt die blaue Erdkugel im Weltall. Der erste „Whole Earth Catalog“ von 1969 empfahl nachhaltige und umweltschonende Produkte; er wurde ein Bestseller unter Kommunarden und Bastlern der Gegenkultur.
Sein Herausgeber Steward Brand soll den Begriff „Personal Computer“ erfunden haben. Inzwischen betrachten Mentalitätshistoriker die Entfesselung von Individualität und Kreativität in San Francisco als eine der Ursachen, warum sich die Computerindustrie in den 1970er Jahren gerade dort ansiedelte. Etwas verkürzt: Ohne Summer of Love gäbe es weder Google noch Smartphones.