Cláudia Varejão

Ama-San

Ama-San sind Taucherinnen, die im offenen Ozean nach Meeresfrüchten suchen. Foto: Wolf Kino Verleih
(Kinostart: 3.10.) Ohne Sauerstoffflasche im Ozean: Japanische "Frauen des Meeres" tauchen traditionell nur mithilfe der eigenen Atemluft. Ihr Tun beobachtet Regisseurin Cláudia Varejão ruhig und geduldig – im meditativen Sog der Bilder bleiben manche Fragen offen.

Diese Bezeichnung passt: Der japanische Begriff „Ama-San“ bedeutet wörtlich „Frauen des Meeres“. Schließlich leben die in diesem Dokumentarfilm porträtierten Frauen mit dem Meer und oft genug auch in ihm: als Apnoe-Taucherinnen, die nur mit der eigenen Atemluft ohne weitere Hilfsmittel auskommen. Bis zu vier Minuten dauern ihre Tauchgänge im rauen Pazifik, die sie mehrfach am Tag absolvieren. Dabei bringen sie Schalen- und Krustentiere –Abalonen, Seeigel, Oktopoden, manchmal auch eine Austernperle – nach oben, die sie später für gutes Geld verkaufen. Oder selbst am Abend essen.

 

Info

 

Ama-San

 

Regie: Cláudia Varejão,

112 Min., Japan/ Portugal 2016;

mit: Matsumi Koiso, Mayumi Mitsuhashi, Masumi Shibahara

 

Weitere Informationen

 

Regisseurin Cláudia Varejão, gebürtige Portugiesin, führt auf eine Weise in den Alltag dieser Frauen auf der japanischen Halbinsel Izu ein, die an den „Direct Cinema“-Stil ihres US-Kollegen Frederick Wiseman erinnert. Kommentarlos und ohne Kontextualisierung führt Wiseman seit Jahrzehnten ausgiebig vor, wie Orte und Institutionen funktionieren; zuletzt etwa eine öffentliche Bibliothek in „Ex Libris: The New York Public Library“ (2017) oder eine typische Kleinstadt des Mittleren Westens in „Monrovia, Indiana“ (2018).

 

2000 Jahre alte Tradition

 

Auf ebenso beiläufige Weise stellt „Ama-San“ den Alltag der Taucherinnen Matsumi, Mayumi und Masumi dar, die eine 2000 Jahre alte Tradition forführen. Die drei Frauen repräsentieren verschiedene Generationen mit einem Zeitabstand von vier Jahrzehnten – ihre Tätigkeit üben sie oft bis ins hohe Alter aus.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Tränen der Götter bilden das Meer

 

Ihr Leben beobachtet die Kamera geduldig aus der Nähe: Sie lauscht ihrem Smalltalk über Besuche beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, weil das Tauchen im kalten Wasser auf die Ohren schlägt. Sie ist beim Familienalltag mit ihren Kindern dabei; oder auch, wenn die Frauen ihre Beute grillen und zugleich am offenen Feuer ihre Köpfe wärmen. Beeindruckend wirkt, wie ungezwungen und selbstverständlich sich die Protagonistinnen vor der Kamera bewegen – und erst recht im Meer.

 

Auch beim Karaoke wird neben romatischen Themen der Ozean besungen. Diese Frauen pflegen eine durchweg spirituelle Beziehung zu dem Lebensraum, der sie ernährt. Das Meer, so erfährt man, besteht der japanischen Mythologie zufolge aus den Tränen der Götter; dementsprechend gehört auch das Beten zum beruflichen Alltag der Taucherinnen.

 

Viele Fragen bleiben offen

 

Varejão selbst bezeichnet ihr Werk nicht als Dokumentarfilm, sondern als „Ethnofiktion“. Nun ist die Trennlinie zwischen dokumentarischen Arbeiten und Doku-Fiktion naturgemäß schwammig; jeder noch so scheinbar nüchtern und objektiv in Szene gesetzte Film folgt einem dramaturgischen Bogen, den der Filmemacher festlegt. Wie auch immer: Um Frustration zu vermeiden, sollte der Zuschauer übliche Erwartungen an das Genre Dokumentarfilm ablegen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Jacques - Entdecker der Ozeane" - Biopic über den Meeresforscher Jacques Cousteau von Jérôme Salle

 

und hier einen Bericht über den Film "Still the Water" – subtiles Taucher-Drama auf japanischer Tropen-Insel von Naomi Kawase

 

und hier einen Beitrag über den Film "National Gallery" - facettenreiche Dokumentation über das Londoner Museum von Frederick Wiseman

 

und hier einen Bericht über den Film "Unter Schnee" - Dokudrama über archaische Traditionen in Nordjapan von Ulrike Ottinger.

 

Nicht nur liefert „Ama-San“ keinerlei Erklärungen, was und warum die Protagonistinnen machen, sondern das Thema verschwindet auch immer wieder aus dem Blickfeld. Zudem lässt Varejão sich viel Zeit: Es vergehen 20 Minuten, bis die Kamera mit den Frauen zum ersten Mal aufs Meer hinausfährt und ihnen unter die Wasseroberfläche folgt. Keine der Fragen, die sich hier aufdrängen, werden beantwortet; viele sind immer noch offen, wenn nach fast zwei Stunden der Abspann läuft.

 

Früher tauchten sie fast nackt

 

Wieso die Frauen tragen mittlerweile zwar professionelle Taucheranzüge, doch zugleich immer noch eine traditionelle weiße Kopfbedeckung? Die anzulegen kostet sie einige Mühe. Noch Mitte des 20. Jahrhundert zeigten berühmte Aufnahmen des Aktfotografen Iwase Yoshiyuki fast nackte Frauen auf Tauchtour, lediglich mit Taucherbrille, Kopftuch und Lendenschurz bekleidet; wann und warum hat sich das geändert? Wie kam es überhaupt dazu, dass in Japans konservativ-patriarchialer Gesellschaft ausgerechnet Frauen diesen riskanten, aber offenbar lukrativen Beruf ausüben? Wie viele Taucherinnen sind derzeit aktiv?

 

Trotz all dieser Leerstellen: Es lohnt, sich auf den ruhigen Rhythmus dieser teilnehmenden Beobachtung einzuschwingen. Der Film entfaltet einen meditativen, bisweilen beglückenden Sog, wenn er Momente und Fragmente dieser Lebensweise aneinander reiht, die von Ritualen strukturiert wird und zugleich sehr ungezwungen wirkt. Auch dass der unaufgeregten, bisweilen zerfasernden Darstellung bisweilen der Fokus fehlt, hat etwas Positives: „Ama-San“ drängt dem Zuschauer keine Lesart auf.

 

Solidarische Lebensweise

 

Will die Regisseurin aufzeigen, wie sich eine Tradition mit der modernen Welt verzahnt – was aber vermutlich wenig daran ändern wird, dass sie auf kurz oder lang verschwinden dürfte? Oder eher, wie die Kultur der Ama-San dem Wandel auf unaggressive Weise trotzt? Der Film leistet sich jedenfalls einen optimistisch stimmenden Blick auf ihre solidarische Lebensweise.