Auch das ist Europa: Auf der Alm, zwischen seinen Ziegen, betet Besnik (Arben Bajraktaraj) inbrünstig. Mit offenen Händen vor dem Gesicht, denn der Hirte ist Moslem – wie knapp 60 Prozent seiner Landsleute. Rund 17 Prozent der Albaner sind Christen; davon mehr als die Hälfte katholisch, die übrigen orthodox. Ob er zum Gott der Moslems oder dem der Christen gebetet habe, fragen ihn später Kinder. Zum „Gott der Ziegen“, antwortet Besnik verschmitzt.
Info
Ein Licht zwischen den Wolken
Regie: Robert Budina,
83 Min., Albanien 2018;
mit: Arben Bajraktaraj, Estela Pysqyli, Arben Spahija
Konfessionswechsel einmal pro Woche
Was auf dem Balkan nicht ungewöhnlich ist; die ältesten Gotteshäuser von Istanbul, angefangen mit der weltberühmten Hagia Sophia, wurden als christliche Kirchen errichtet, bevor die osmanischen Eroberer sie nach 1452 in Moscheen umwandelten. Doch im Dorf ist die Überraschung groß. Zumal die Restauratorin Vilma (Esela Pysqyli) daran erinnert, dass man in Albanien historische Bespiele für Doppelnutzung von Gotteshäusern kennt: So gestattete ein Wesir einst einer christlichen Gemeinde, ihren Gottesdienst einmal wöchentlich in der Moschee abzuhalten. Sich mit diesem Vorschlag anzufreunden, fällt der muslimischen Mehrheit schwer.
Offizieller Filmtrailer
Keine fade Ökumene-Fabel
Konfessionelle Unterschiede spalten auch Besniks Familie, deren Angehörige zusammenkommen, um vom schwerkranken Patriarchen Abschied zu nehmen. Er war mit einer gläubigen Katholikin verheiratet, aber selbst überzeugter Kommunist; über seinem Bett hängen immer noch vergilbte Porträts von Marx, Stalin und Albaniens Diktator Enver Hodscha. Seine resolute Tochter Fitore (Irena Cahani) und ihre Familie bekennen sich zum Islam; sein Sohn Alban (Osman Ahmeti) ist dagegen zur Orthodoxie übergetreten, weil er sonst im griechischen Exil keine Arbeit gefunden hätte.
Denkbar viele weltanschauliche Gegensätze auf engstem Raum: Daraus könnte eine fad erbauliche Fabel über Glaubenseifer und Ökumene werden. Das vermeidet Regisseur Robert Budina durch seine Hauptfigur: Der Ziegenhirte Besnik ist alles andere als ein schlichtes Gemüt. Sehr empfindsam und leicht erregbar, hat er manchmal Halluzinationen und andere Empfindungen, für die der Begriff „psychische Störung“ nur ein nichtssagendes Etikett wäre.
Ähnelt rumänischem Neorealismus
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Babai – Mein Vater" – bewegend kühles Drama über einen jungen Kosovo-Emigranten von Visar Morina
und hier einen Beitrag über den Film "Der Albaner" – präziser Thriller über die Auswanderung eines Kosovaren nach Deutschland von Johannes Naber
und hier eine Besprechung des Films "Nomaden des Himmels" – Porträt von Pferdezüchtern in Kirgistan von Mirlan Abdykalykov.
Was als lineare Dorfchronik beginnt, verwandelt sich unversehens in eine vielschichtige Parabel; das erinnert im Aufbau an manche Meisterwerke des rumänischen Neorealismus. Geschickt verflicht Regisseur Budina Religion, Familienleben und Stadt-Land-Kontrast miteinander; unaufdringlich führt er vor, wie die Differenzen einander durchdringen und verstärken. Das spiegelt sich auf nationaler Ebene wider: Die unversöhnliche Polarisierung zwischen den regierenden Sozialisten und der oppositionellen „Demokratischen Partei“ lähmt seit mehr als einem Jahr das politische Leben im armen Balkanstaat.
Wie Kaschmir oder Kirgistan
Wobei Budina seine Geschichte nicht zufällig im äußersten Norden des Landes ansiedelt: In den albanischen Alpen begrenzen bis zu 2700 Meter hohe, schneebedeckte Gipfel tief eingeschnittene Täler. Ihre Bewohner hausen in archaisch ausgestatteten Bauernhöfen, angesiedelt in unberührter Natur; solche malerischen Panoramen würde man eher in Kaschmir oder Kirgistan vermuten. Doch sie sind kaum 300 Kilometer vom italienischen Bari entfernt – auch das ist Europa.