Thomas Heise

Heimat ist ein Raum aus Zeit

"Ich bin froh, dass die unheilvolle Stille vorbei ist.": Zitat aus einem Brief von Rosemarie an Wolfgang Heise 1966, Foto: GMfilms Berlin
(Kinostart: 26.9.) Deutschland, eine Trümmerwüste: Die Kette der Katastrophen im 20. Jahrhundert spannt Regisseur Thomas Heise mit Briefen und Notizen seiner Verwandten auf. Dreieinhalb Stunden lang bleischwer bebildert – ein Manifest der Trauer und Resignation.

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ ist ein genialer Satz. Was da alles drinsteckt an vielschichtigen Weltverhältnissen: vom individuellen Erleben im Raum-Zeit-Kontinuum über das zugleich gebrochene und verklärte heutige Verhältnis zum Heimat-Begriff bis zu Einsteins Relativitätstheorie. Und das mit nur sechs einfachen Wörtern! Mit einem so perfekten Titel kann beim dazugehörigen Film nichts schief gehen, sollte man meinen.

 

Info

 

Heimat ist ein Raum aus Zeit

 

Regie: Thomas Heise,

218 Min., Deutschland/Österreich 2019

 

Weitere Informationen

 

Doch Regisseur Thomas Heise setzt auf sehr viel mehr Worte: einen schier endlosen Redefluss. Dreieinhalb Stunden lang strömen, rauschen und tröpfeln die Worte vorbei, nur unterbrochen durch längere Redepausen. Solches Vertrauen in die Kraft des Wortes ist im Kino selten geworden; bei Thomas Heise mag es in der Familie liegen. Sein Vater Wolfgang Heise war einer der bekanntesten DDR-Philosophen; er pflegte eine Mischung aus Systemnähe und -distanz, die in der ostdeutschen Intelligenzija verbreitet war. Wolf Biermann hat bei ihm studiert und ihm postum ein Loblied gewidmet.

 

Briefe, Tagebücher + Tonbänder

 

Seit 1980 dreht Thomas Heise Dokumentarfilme, die zu DDR-Zeiten im Archiv verschwanden; zudem hat er in den 1990er Jahren Theaterstücke am Berliner Ensemble inszeniert. Nun greift der Regisseur auf seine Familiengeschichte zurück: Der gesamte Film besteht aus schriftlichen Zeugnissen von Angehörigen seit Anfang des 20. Jahrhunderts, die er in chronologischer Reihenfolge vorliest. Meist Briefe und Tagebücher, auch ein paar Tonbänder sind zu hören; dazwischen trällert Ufa-Star Marika Rökk ein Durchhalte-Lied.

Offizieller Filmtrailer


 

Zeitgeist spricht durch Personen

 

Heise verzichtet auf alle Zusatzinformationen: Genannt werden nur Ort, Datum und Autor, manchmal nicht einmal das. So muss sich der Zuhörer die Verwandtschaftsverhältnisse selbst erschließen, was leidlich gelingt – und oft nicht entscheidend ist. Wichtiger als die Personen sind die Worte, die sie wählen, und damit nicht nur ihre eigenen Gedanken, sondern auch die damalige Atmosphäre ausdrücken. Der jeweilige Zeitgeist mit seinen Gemeinplätzen, Illusionen und Enttäuschungen spricht durch sie hindurch – er wird gerade in individuellen Äußerungen, in denen es häufig um Alltägliches geht, besonders plastisch fassbar.

 

Das Verfahren einer oral history aus hinterlassenen Aufzeichnungen hat literarische Vorbilder: Das vierteilige „Echolot“ über den Zweiten Weltkrieg, das Walter Kempowski zwischen 1993 und 2005 veröffentlichte, war bei Kritik und Publikum ein großer Erfolg. Heise greift weiter aus: Er beginnt mit einem Schulaufsatz seines Großvaters Wilhelm Heise von 1912 über den Krieg. Der sei schändlich und bestialisch, schreibt er – aber vaterländische Pflicht, wenn Deutschland angegriffen werde. Dagegen schildert seine Großmutter Edith in einem Lebenslauf-Entwurf ihr Aufwachsen unter jüdischen Sozialisten in Wien.

 

30 Minuten lang Deportationslisten

 

Wie Wilhelm 1922 um Ediths Hand wirbt, wird noch ausführlich geschildert. Doch dann werden die Zeitsprünge groß: von einem historischen Unglück zum nächsten. Wilhelms Entlassung aus dem Schuldienst 1934 geht über in die NS-Judenverfolgung: Das Paar in Berlin muss durch Briefe miterleben, wie Ediths österreichische Verwandtschaft nach und nach in die Arbeits- und Vernichtungslager auf polnischem Boden deportiert werden. Diese Korrespondenz breitet Heise fast eine halbe Stunde lang aus; dazu rollen vor der Kamera lauter Listen mit jüdischen Namen ab, die für Abtransporte in Lager erstellt wurden.

 

Ihr Sohn Wolfgang schuftete im Zwangsarbeiterlager Zerbst, erlebte Bombenangriffe und Kriegende und lernte dann seine künftige Frau Rosemarie kennen. Die hatte einen hartnäckigen Verehrer namens Udo, doch beide kamen nicht zueinander: Sie war in der FDJ aktiv, während er Studium und Wiederaufbau-Wohlstand in der Bundesrepublik vorzog.

 

Brandrede von Heiner Müller

 

Das Trauma von Zusammenbruch und deutscher Teilung verändert die Sprechweise deutlich: Anstelle steif-sentimentaler Vorkriegs-Förmlichkeiten ist die Tonlage nun poetisch kühl oder schnoddrig. Wolfgang notiert 1945 apokalyptisch: „Das Schöne ist nichts als der Anfang des Schrecklichen.“ Sechs Jahre später stellt Udo in Mainz fest: „Im Großen werden wir nach Strich und Faden beschissen.“ Das nannte sich Existentialismus oder skeptische Generation.

 

Die DDR-Jahre bestehen vor allem aus Wolfgang Heises Problemen mit der SED, dem Wehrdienst-Stumpfsinn von Thomas‘ Bruder Andreas bei der NVA und der Freundschaft der Heises mit berühmten Autoren wie Christa Wolf und Heiner Müller. Der Dramatiker hat auch fast das letzte Wort: in einer radikalen Abrechnung mit Neokolonialismus nach der Wende und kapitalistischer Selbstzerstörung. So vernichtend wie wortgewaltig – für ein Hörspiel-Feature wäre diese Brandrede ein dröhnender Paukenschlag zum Abschluss.

 

10 Minuten Fliegerhorst-Ruinen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "In Zeiten des abnehmenden Lichts" – Verfilmung der DDR-Familienchronik von Eugen Ruge durch Matti Geschonneck mit Bruno Ganz

 

und hier eine Besprechung des Films "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht" - brillanter Historienfilm über Deutschland um 1850 als Auswanderer-Armenhaus von Edgar Reitz

 

und hier einen Bericht über den Film "Adam und Evelyn" - Romanverfilmung über den Wendesommer 1989 als Vertreibung aus dem Nischenparadies von Andreas Goldstein.

 

Thomas Heise hat aber einen Film gedreht – mit minimalistisch kargen Aufnahmen. Wenn die Kamera nicht alte Fotos oder Schriftstücke abtastet, sind ausgesucht öde Orte zu sehen, in strengem Schwarzweiß und möglichst statisch. Verfallene Bauten, verlassene Felder, Buschwerk oder Betonbrocken und immer wieder Gleisanlagen mit Waggons: Güterzüge oder S-Bahnen, Hauptsache es rollt. Schon klar: der Zug des Lebens  – der auch an die Front oder nach Auschwitz fahren könnte.

 

Zuweilen untermalen die Motive das Gesagte, was wenig hilft: Zehn Minuten lang leere Fliegerhorst-Ruinen in Zerbst zu zeigen, macht Wolfgangs Leid im Lager nicht anschaulicher. Meist geht es aber nur um maximale Tristesse – Deutschland, eine Trümmerwüste. Im Grunde sind diese Bilder zutiefst romantisch: Sie sollen darauf verweisen, was abwesend ist, weil es verschwand oder zerstört wurde, und nur noch betrauert oder ersehnt werden kann. Manche Landschaftsaufnahmen ähneln denen von Caspar David Friedrich.

 

Rabenschwarze Weltsicht

 

Bei seiner Premiere auf der Berlinale wurde „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ sehr gelobt. Jahrhundertgeschichte als Familiensaga auf der Tonspur, dazu bleischwere Bilder ohne Konzession an Marktgängiges: Diese Kombination ist für viele Kritiker unwiderstehlich.

 

In der Tat kann man aus diesem Film viel lernen: über die verbitterte Weltsicht desjenigen Teils der ostdeutschen Ex-Elite, der die Wiedervereinigung als bedingungslose Kapitulation wie 1945 empfand – und damit als weiteres Verhängnis in der Kette deutscher Katastrophen. Mit ähnlich desaströsen Folgen für die eigene Biographie; da bleibt eigentlich nur die Wahl zwischen Resignation und Aufbegehren. Ein Manifest des intellektuellen Wutbürgertums.