Mai 1961: In der Hochphase des Kalten Krieges reist das Leningrader Kirow-Ballett nach Paris, um dem Westen die Überlegenheit der sowjetischen Tanzkunst zu präsentieren. Mitglied der berühmten Kompanie ist der noch unbekannte, dafür aber umso ehrgeizigere Rudolf Nurejew (Oleg Ivenko). In seiner Heimat hat er sich gegen alle Widerstände einen Platz in der ersten Reihe ertanzt. Nun hat er eine neue Mission: Die ganze Welt soll wissen, dass er der Beste ist.
Info
Nurejew –
The White Crow
Regie: Ralph Fiennes,
122 Min., Großbritannien/ Frankreich/ Serbien 2018;
mit: Oleg Ivenko, Ralph Fiennes, Adèle Exarchopoulos
Politik interessiert ihn nicht
Rudolfs Begeisterung für die dekadente westliche Bohème bereitet dem KGB-Offizier Strischewsky Kopfschmerzen; das führt schließlich zu einer offiziellen Verwarnung. Doch damit kommt der Aufpasser nicht gegen die Renitenz des Künstlers an. Der sieht sich auf einem Niveau mit den größten Genies der Kunstgeschichte und stellt den Tanz weit über die Politik; die interessiere ihn nicht, betont er mehrfach. Also beschließt Strischewsky, Nurejew vor dem Weiterflug der Kompanie nach London zu separieren und allein zurück nach Moskau fliegen zu lassen.
Offizieller Filmtrailer
Asyl-Antrag aus Karriere-Angst
Als er ihm das kurz vor Abflug ankündigt, reagiert der Tänzer panisch: Er geht davon aus, dass er verschleppt und in der Sowjetunion inhaftiert werden soll. Die Situation am Flughafen Le Bourget ist brenzlig, aber mit Hilfe seiner Pariser Freunde und der Airport-Polizei wird die Entführung verhindert. Da er fürchtet, in seiner Heimat werde seine Karriere bald enden, beantragt Nurejew politisches Asyl in Frankreich. Hier wird er zu einer der größten Ballettlegenden des 20. Jahrhunderts aufsteigen – um den Preis der Heimatlosigkeit
In seiner dritten Regiearbeit nimmt sich Großschauspieler Ralph Fiennes eines Künstlermythos‘ an, der für die große Leinwand wie geschaffen scheint. Nicht ohne Vorläufer: Es gibt zwei abendfüllende Dokumentarfilme, einen Roman und zahlreiche Biographien über das Leben des Exzentrikers, der die Männerrollen im Tanztheater neu definierte.
Feinfühliger Egomane
Dabei konzentriert sich Fiennes, der selbst die Rolle des sanftmütigen Leningrader Ballettmeisters Alexander Puschkin übernimmt, ganz auf die Frühphase von Nurejews Entwicklung als Tänzer. Damit reizt der Regisseur das dramatische Potenzial seiner Entscheidung für Flucht und Systemwechsel, die zuallererst künstlerisch motiviert war, nicht nur als Spannungsbogen aus.
Durch souveränes Erzählen auf drei Zeitebenen zeichnet Fiennes zudem ein glaubhaftes Charakterbild seines widersprüchlichen Protagonisten. Mal von höchster Feinfühligkeit, mal von aggressiv beleidigender Egomanie, bot Nurejews Auftreten Konfliktpotenzial en masse, was der Film deutlich herausdestilliert. Neben der Schilderung der Wochen in Paris beleuchtet er auch Nurejews ärmliche Kindheit in der russischen Provinz und seine spätere Ausbildung am Choreographischen Institut von Leningrad.
Getriebener mit hohen Ansprüchen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Yuli" – mitreißendes Biopic über den berühmten kubanischen Balletttänzer Carlos Acosta von Icíar Bollaín
und hier einen Bericht über den Film "Wüstentänzer" – intensives Drama um eine geheime Tanzgruppe im Iran von Richard Raymond
und hier einen Beitrag über den Film "Feuer bewahren - nicht Asche anbeten" – Tanz-Doku über den Choreographen Martin Schläpfer von Annette von Wangenheim
und hier eine Besprechung des Films "Bolschoi Babylon" – Enthüllungs-Dokum über das berühmte Moskauer Tanz-Ensemble von Nick Read.
Der Film wurde zum großen Teil auf Russisch gedreht; Fiennes hat ihn mit einigen Stars der aktuellen Ballettszene besetzt. So geraten die Tanzszenen zu wirklichen Höhepunkten; eine Entdeckung ist Hauptdarsteller Oleg Ivenko, der Nurejew durchaus ähnlich sieht und seine erste Filmrolle nicht nur tänzerisch, sondern auch persönlich glänzend ausfüllt.
Wissen, wovon man erzählen will
Trotz aller Einzelleistungen und einer angenehm schwebenden Kamera zeigt sich der Film letztlich doch nicht seinem Thema gewachsen. Ralph Fiennes fällt zu wenig Neues oder Originelles ein; zu behäbig und poliert wirken insbesondere die Szenen aus Nurejews Jugend. Da beherzigt der Regisseur selbst nicht den Rat, den er in seiner Rolle als Ballettmeister in einer Schlüsselszene gibt: Es kommt nicht nur auf die perfekte Beherrschung des Körpers und der Tanzkunst an – man muss auch wissen, wovon man erzählen will.
Die Heldenerzählung, wie Nurejew unter allen Umständen an seinem Traum festhält, ist nicht gerade innovativ; sie wirkt fast ein wenig aus der Zeit gefallen. In einer Welt, die gemeinsame Antworten auf globale Probleme sucht, sind eher weniger Egoismus und mehr Kollektivität gefordert. Das hat zum Beispiel auch das zeitgenössische Tanztheater längst verstanden.