Ralph Fiennes

Nurejew – The White Crow

Alexander Puschkin (Ralph Fiennes) trainiert Rudolf Nurejew (Oleg Ivenko) und Teja Kremke (Louis Hofmann, re.). Foto: Alamode Filmverleih
(Kinostart: 26.9.) Flucht auf dem Flughafen: 1961 setzte sich der sowjetische Ballettstar Rudolf Nurejew bei einem Gastspiel in den Westen ab. Wie es dazu kam, zeichnet Regisseur Ralph Fiennes anschaulich mit tollen Tanzszenen nach – doch wenig innovativ.

Mai 1961: In der Hochphase des Kalten Krieges reist das Leningrader Kirow-Ballett nach Paris, um dem Westen die Überlegenheit der sowjetischen Tanzkunst zu präsentieren. Mitglied der berühmten Kompanie ist der noch unbekannte, dafür aber umso ehrgeizigere Rudolf Nurejew (Oleg Ivenko). In seiner Heimat hat er sich gegen alle Widerstände einen Platz in der ersten Reihe ertanzt. Nun hat er eine neue Mission: Die ganze Welt soll wissen, dass er der Beste ist.

 

Info

 

Nurejew –
The White Crow

 

Regie: Ralph Fiennes,

122 Min., Großbritannien/ Frankreich/ Serbien 2018;

mit: Oleg Ivenko, Ralph Fiennes, Adèle Exarchopoulos

 

Website zum Film

 

Dafür geht er gegen den erklärten Willen seiner Betreuer bei der erstbesten Gelegenheit auf die ballettbegeisterte Intellektuellenszene in Paris zu; er freundet sich mit dem Tänzer Pierre Lacotte (Raphaël Personnaz) und der jungen Chilenin Clara Saint (Adèle Exarchopoulos) an. Gemeinsam mit ihnen streift er durch das Kultur- und Nachtleben der französischen Hauptstadt, deren Ballettpublikum ihm von seinem ersten Auftritt an zu Füßen liegt.

 

Politik interessiert ihn nicht

 

Rudolfs Begeisterung für die dekadente westliche Bohème bereitet dem KGB-Offizier Strischewsky Kopfschmerzen; das führt schließlich zu einer offiziellen Verwarnung. Doch damit kommt der Aufpasser nicht gegen die Renitenz des Künstlers an. Der sieht sich auf einem Niveau mit den größten Genies der Kunstgeschichte und stellt den Tanz weit über die Politik; die interessiere ihn nicht, betont er mehrfach. Also beschließt Strischewsky, Nurejew vor dem Weiterflug der Kompanie nach London zu separieren und allein zurück nach Moskau fliegen zu lassen.

Offizieller Filmtrailer


 

Asyl-Antrag aus Karriere-Angst

 

Als er ihm das kurz vor Abflug ankündigt, reagiert der Tänzer panisch: Er geht davon aus, dass er verschleppt und in der Sowjetunion inhaftiert werden soll. Die Situation am Flughafen Le Bourget ist brenzlig, aber mit Hilfe seiner Pariser Freunde und der Airport-Polizei wird die Entführung verhindert. Da er fürchtet, in seiner Heimat werde seine Karriere bald enden, beantragt Nurejew politisches Asyl in Frankreich. Hier wird er zu einer der größten Ballettlegenden des 20. Jahrhunderts aufsteigen – um den Preis der Heimatlosigkeit

 

In seiner dritten Regiearbeit nimmt sich Großschauspieler Ralph Fiennes eines Künstlermythos‘ an, der für die große Leinwand wie geschaffen scheint. Nicht ohne Vorläufer: Es gibt zwei abendfüllende Dokumentarfilme, einen Roman und zahlreiche Biographien über das Leben des Exzentrikers, der die Männerrollen im Tanztheater neu definierte.

 

Feinfühliger Egomane

 

Dabei konzentriert sich Fiennes, der selbst die Rolle des sanftmütigen Leningrader Ballettmeisters Alexander Puschkin übernimmt, ganz auf die Frühphase von Nurejews Entwicklung als Tänzer. Damit reizt der Regisseur das dramatische Potenzial seiner Entscheidung für Flucht und Systemwechsel, die zuallererst künstlerisch motiviert war, nicht nur als Spannungsbogen aus.

 

Durch souveränes Erzählen auf drei Zeitebenen zeichnet Fiennes zudem ein glaubhaftes Charakterbild seines widersprüchlichen Protagonisten. Mal von höchster Feinfühligkeit, mal von aggressiv beleidigender Egomanie, bot Nurejews Auftreten Konfliktpotenzial en masse, was der Film deutlich herausdestilliert. Neben der Schilderung der Wochen in Paris beleuchtet er auch Nurejews ärmliche Kindheit in der russischen Provinz und seine spätere Ausbildung am Choreographischen Institut von Leningrad.

 

Getriebener mit hohen Ansprüchen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Yuli" – mitreißendes Biopic über den berühmten kubanischen Balletttänzer Carlos Acosta von Icíar Bollaín

 

und hier einen Bericht über den Film "Wüstentänzer" – intensives Drama um eine geheime Tanzgruppe im Iran von Richard Raymond

 

und hier einen Beitrag über den Film "Feuer bewahren - nicht Asche anbeten" – Tanz-Doku über den Choreographen Martin Schläpfer von Annette von Wangenheim

 

und hier eine Besprechung des Films "Bolschoi Babylon" – Enthüllungs-Dokum über das berühmte Moskauer Tanz-Ensemble von Nick Read.

 

Überall erscheint der Künstler als Außenseiter – oder als „weiße Krähe“ – und manisch Getriebener. Unermüdlich strebt er nach höchster Vollendung und ist dafür bereit, jeden, der sich ihm in den Weg stellt, aus dem Feld zu schlagen. Davor sind auch diejenigen nicht gefeit, die sich von seinem Charisma und seiner offenherzig Begeisterung einnehmen lassen: Mit unbeugsam hohen Ansprüchen kann sich Nurejew plötzlich gegen sie wenden. Doch obwohl er kaum in der Lage ist, sich für Fehlverhalten zu entschuldigen, bleiben seine Anhänger treu auf seiner Seite, wenn es darauf ankommt.

 

Der Film wurde zum großen Teil auf Russisch gedreht; Fiennes hat ihn mit einigen Stars der aktuellen Ballettszene besetzt. So geraten die Tanzszenen zu wirklichen Höhepunkten; eine Entdeckung ist Hauptdarsteller Oleg Ivenko, der Nurejew durchaus ähnlich sieht und seine erste Filmrolle nicht nur tänzerisch, sondern auch persönlich glänzend ausfüllt.

 

Wissen, wovon man erzählen will

 

Trotz aller Einzelleistungen und einer angenehm schwebenden Kamera zeigt sich der Film letztlich doch nicht seinem Thema gewachsen. Ralph Fiennes fällt zu wenig Neues oder Originelles ein; zu behäbig und poliert wirken insbesondere die Szenen aus Nurejews Jugend. Da beherzigt der Regisseur selbst nicht den Rat, den er in seiner Rolle als Ballettmeister in einer Schlüsselszene gibt: Es kommt nicht nur auf die perfekte Beherrschung des Körpers und der Tanzkunst an – man muss auch wissen, wovon man erzählen will.

 

Die Heldenerzählung, wie Nurejew unter allen Umständen an seinem Traum festhält, ist nicht gerade innovativ; sie wirkt fast ein wenig aus der Zeit gefallen. In einer Welt, die gemeinsame Antworten auf globale Probleme sucht, sind eher weniger Egoismus und mehr Kollektivität gefordert. Das hat zum Beispiel auch das zeitgenössische Tanztheater längst verstanden.