Mit der fremdartigen Elektrodenkappe auf dem Kopf sieht das zarte, weißblonde Mädchen aus wie eine Außerirdische. Und in gewisser Weise ist sie das auch. Die neunjährige Benni (Helena Zengel) überfordert mit ihren unkontrollierbaren Wutausbrüchen schon im zarten Alter gestandene Erwachsene und ein ganzes Fürsorgesystem. Frühkindliche, traumatische Gewalterfahrungen, instabile Familienverhältnisse und eine Mutter, die vor ihrer Verantwortung wegläuft, machen Benni unberechenbar für ihre Mitmenschen: einen Systemsprenger eben.
Info
Systemsprenger
Regie: Nora Fingscheidt,
118 Min., Deutschland 2019;
mit: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela M. Schmeide
Durch Höhen und Tiefen
Harte Beats und schnelle Schnitte begleiten Bennis Ausbrüche und Fluchten. Ihr Außer-Sich-Sein wird durch assoziative Bildfolgen, mitunter auch nur wechselnde Farbflächen illustriert. Das kräftige Pink ihrer Kleidung kontrastiert mit der farbentsättigten Umgebung. Der Film entwickelt einen starken drive, der die Zuschauer ganz unmittelbar durch alle Höhen und Tiefen mitzieht.
offizieller Filmtrailer
Fragilität trifft Aggression
Denn Benni ist nicht nur eine Last, sie ist auch voller Energie und Herzlichkeit. Hell und Dunkel liegen bei ihr nah beieinander. Umso tragischer ist es, dass sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen kann. Helena Zengels unglaubliche Präsenz und ihr intensives Spiel sorgen dafür, dass Benni sowohl in ihrer Fragilität als auch mit ihren Aggressionen glaubhaft bleibt. Trotz intensiver Bemühungen ihrer Sozialarbeiterin (Gabriela Maria Schmeide) und ihres Schulbegleiters (Albrecht Schuch) steckt das Mädchen in einer Eskalationsschleife fest. Irgendwann ist keine Einrichtung mehr bereit, sie aufzunehmen.
Dabei will Benni doch eigentlich nur zurück zur Mutter. Bianca Klaaß spielt die von ihrem Leben überforderte Frau mit einer unter die Haut gehenden Mischung aus Liebe und Verhärtung. Ihre leeren Versprechungen, dass Benni eines Tages wieder bei ihr wohnen darf, machen es für das Kind nur noch schlimmer. In einer herzergreifenden Szene schreit Benni sich ihre ganze Mama-Sehnsucht aus dem Leib. „Systemsprenger“ spricht niemanden schuldig, bietet aber auch keine wohlfeilen Lösungen an. Ein bisschen Liebe richtet es nicht; auch nicht drei Wochen Einzelbetreuung in einer Hütte im Wald.
Aufmerksamkeit nur für Intensivtäter
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ich war zuhause, aber..." - essayistisches Familien-Drama von Angela Schanelec
und hier einen Bericht über den Film "24 Wochen" - beeindruckendes Abtreibungs-Drama von Anne Zohra Berrached
und hier einen Beitrag über den Film "The Florida Project" - zauberhafte Prekariatsstudie von Sean Baker mit Willem Dafoe.
Die sind nur mit viel Glück und Kraft zu beheben – wenn überhaupt. Diese individuellen Tragödien laufen meist unsichtbar ab. Größere Aufmerksamkeit erlangen sie höchstens, wenn das Erschrecken über jugendliche Intensivtäter mal wieder durch die Nachrichten geistert. Es ist ein großer Verdienst des Filmes, dieses gesellschaftliche Problem differenziert und gleichzeitig filmisch packend darzustellen. Er erkennt die Not dieser Kinder an, ohne ihre dunklen Seiten zu beschönigen. Und würdigt die schwierige, frustrationsreiche Arbeit der im Fürsorgesystem Beschäftigten.
Schwer auszuhalten und beglückend
Damit ist „Systemsprenger“ eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Filmlandschaft: In seiner Intensität ist der Film oft nur schwer auszuhalten. Und doch – so seltsam das klingen mag – ist er zugleich beglückend. Eine so stimmige Verbindung von gesellschaftlich engagiertem Kino und hoher Filmkunst findet sich selten. Dafür wurde er zu Recht auf der der Berlinale 2019 mit dem Silbernen Bär ausgezeichnet und ist ein vielversprechender deutscher Kandidat für den Auslands-Oscar.