Der Nahe Osten ist ein Minenfeld; jeder Schritt kann der letzte sein. Und die Gefahr strahlt aus, weit über die Levante hinaus. Kaum hatte das Jüdische Museum Berlin (JMB) am 7. Juni seine neue Sonderschau eröffnet, geriet das Haus in heftige Turbulenzen. Den Anfang machte ein Retweet des Museums mit einer Leseempfehlung für einen Artikel in der „tageszeitung“. Darin wurde über einen Aufruf von 240 jüdischen Wissenschaftlern aus Israel und den USA berichtet: Sie kritisierten einen Beschluss des Deutschen Bundestags vom 17. Mai, der die so genannte BDS-Bewegung als antisemitisch verurteilt.
Info
This Place
07.06.2019 - 05.01.2020
täglich 10 bis 20 Uhr
im Jüdischen Museum, Lindenstraße 9–14, Berlin
Katalog 44 €
Bibi schreibt Angie
Dagegen protestierte der Präsident des „Zentralrats der Juden in Deutschland“, Josef Schuster: „Das Maß ist voll. Das Jüdische Museum Berlin scheint gänzlich außer Kontrolle geraten zu sein.“ Es war nicht die erste Intervention von außen. Während der Laufzeit der Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sich im Dezember 2018 brieflich bei Bundeskanzlerin Angela Merkel beschwert, dass darin die jüdische Sicht ungenügend zur Geltung komme: Er forderte von Merkel, die Unterstützung für das JMB, das zu drei Vierteln aus Bundesmitteln finanziert wird, einzustellen. Ein bislang einmaliger Vorgang; zunächst ohne Folgen.
Interview mit dem Fotografen Nick Waplington über seine Fotoserie von jüdischen Siedlern + Impressionen der Ausstellung
Tiefstapelnder Titel
Doch nach dem Retweet gab es personelle Konsequenzen: Am 13. Juni musste die JMB-Pressesprecherin gehen. Einen Tag später warf Museumsdirektor Peter Schäfer, dessen Vertrag noch bis September 2020 lief, entnervt das Handtuch. Mit ihm solidarisierten sich 58 Museumsleiter und -kuratoren am 24. Juni in einer Erklärung: Sie verwahrten sich gegen Einflussnahme von außen und den „besorgniserregenden globalen Trend, die Unabhängigkeit von Kulturinstitutionen durch Eingriffe von Regierungen und Kampagnenorganen einzuschränken“. Freiheit der Kunst versus Gängelung durch politische Interessen.
Dieser Skandal hat mit der neuen Fotoausstellung nicht direkt zu tun – doch er hätte sich auch an ihr entzünden können. Im Unheiligen Land beanspruchen alle Kontrahenten alleinige Deutungshoheit; die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen, sie auch nur zu darzustellen, wird als Affront empfunden. Daher tritt die Schau möglichst unparteiisch auf: „This Land“ ist als Titel absolut neutral, weil er sich jeder Aussage enthält, wie dieser Landstrich heißen und wem er gehören mag. Er ist einfach „Dieses Land“; tiefer kann man rhetorisch nicht stapeln.
Dronenflüge in der Negev-Wüste
Dabei hat das Langzeitvorhaben mit 200 Arbeiten von 12 renommierten Fotografen, das seit 2014 in Prag, Tel Aviv, Florida und New York zu sehen war, durchaus Bezüge zum Judentum. Der französische Initiator Frédéric Brenner dokumentierte in seinem Projekt „Diaspora“ jüdische Gemeinschaften in 40 Ländern; manche „This Land“-Teilnehmer haben gleichfalls einen jüdischen Hintergrund. Doch das sieht man ihren Arbeiten kaum an, im Gegenteil: In den meisten Beiträgen kommen sowohl Israelis als auch Palästinenser vor – oder keiner von beiden.
Den abstraktesten Zugang wählte der US-Fotograf Fazal Sheikh: Mithilfe von Dronen machte er in der Negev-Wüste Luftaufnahmen von Beduinendörfern und Siedlungen – oder ihrem Verschwinden, weil sie Militäreinrichtungen weichen mussten. Diese geometrischen Formationen in Sandfarben sind von großem ästhetischen Reiz, bleiben aber ohne Erläuterung unverständlich. Stephen Shore, in den 1970er Jahren ein Pionier der Kunstfotografie in Farbe, knipste auch in der Wüste, blieb aber auf dem Boden – und bekennt, diese Region sei „unmöglich zu verstehen“.
Zwischen Atombunker + Himmelreich
Ihr gewinnen Thomas Struth und Josef Koudelka unerwartete Perspektiven ab. Struth, bekannt für detailreiche Riesenformate zu komplexen Erscheinungen, bannt Siedlungen beider Parteien in Panoramen von schmerzlich schöner Strahlkraft. Seine Innenaufnahme der Verkündigungsbasilika in Nazareth, wo einst Maria der Engel erschienen sein soll, ist eine faszinierend widersprüchliche Ansicht irgendwo zwischen Atombunker und Himmelreich.
Josef Koudelka wurde 1968 bekannt, als er den Einmarsch sowjetischer Truppen in die CSSR in dramatischen Schwarzweiß-Bildern festhielt. Mit dem gleichen Verfahren hat er die bis zu acht Meter hohe Sperrmauer dokumentiert, die Israel vom Westjordanland trennt. Als Faltbuch, das sich aufgeklappt quer durch den Raum erstreckt, wirken seine Fotos genauso sperrig und einschüchternd wie das Objekt, das sie abbilden: ein Betonmonster, das Stadtteile, Straßen und Felder brachial durchschneidet.
Fotos von 350 Westbank-Siedlungen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Life in Stills" – Doku über ein legendäres Fotografen-Ehepaar in Tel Aviv von Tamar Tal
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Welcome to Jerusalem" – facettenreiches Porträt der umstrittensten Stadt der Welt im Jüdischen Museum, Berlin – Benjamin Netanjahu protestierte
und hier eine Besprechung des Films "Cinema Jenin" – Doku über die Restaurierung eines palästinensischen Kinos von Marcus Vetter
und hier eine Besprechung des Films "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" – Verfilmung der Roman-Autobiographie von Amos Oz durch Natalie Portman.
Der Brite Nick Waplington hat in fünf Jahren mehr als 350 jüdische Siedlungen im Westjordanland fotografiert; er wollte die Siedler aus ihrer Isolation holen und ihre Motive ergründen, erklärt er. Vom „Settlement“-Ertrag kann die Schau nur einen Bruchteil zeigen: neben absurd aufwändig geschützten Behausungen auch zufrieden dreinblickende Modellfamilien, an denen die Anfeindungen der Außenwelt abzuperlen scheinen.
Bibi muss erneut schreiben
Nicht alle Beiträge sind gleichermaßen erhellend. Wendy Ewald drückte Zufallsbekannten eine Kamera in die Hand und ließ sie selbst fotografieren; dabei kommen typische Amateur-Schnappschüsse heraus. Dagegen folgt Rosalind Solomon gern ihrer Intuition, doch die Ergebnisse ähneln denen von Ewald. Und die Koreanerin Jungjin Lee steuert aufwändig gedruckte Detail-Ansichten bei, die stimmungsvoll spröde wirken, aber überall hätten entstehen können.
Dennoch bietet „This Place“ ein eindrucksvoll facettenreiches Bild dieser umkämpften Region und führt damit vor Augen, dass sie historisch und kulturell unauslotbar vielschichtig ist – gegen alle fürchterlichen Vereinfachungen. Das wird dem nationalchauvinistischen Regierungschef Netanjahu kaum gefallen; er muss wohl einen zweiten Mahnbrief nach Berlin schicken.